Noam-Chomsky-(01)

Die Verkommenheit der politischen Moral

Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am M.I.T. und gilt als einer der prominentesten Kritiker der US-Außenpolitik. Im Januar 2013 gab der linke Intellektuelle Eric Bailey vom Magazin Torture ein ausführliches Interview zu aktuellen Fragen der Weltpolitik, welches wir für so spannend halten, dass wir es Euch nicht vorenthalten wollen.

In den letzten vier Jahren hat sich Politik der USA – was die Menschenrechte angeht – einschneidend verändert. Einer der wenigen Fälle, in denen die Demokratische und die Republikanische Partei im Laufe der letzten vier Jahre zusammengearbeitet haben, war die Verabschiedung des National Defense Authorization Act (NDAA) im Jahr 2012. Mit diesem Gesetz wurde dem US-Militär die Macht gegeben, US-Bürger ohne Anklage, Gerichtsverhandlung oder ein anderes gesetzliches Verfahren unbegrenzt einzusperren; bis heute versucht die Obama-Regierung mit allen juristischen Tricks zu verhindern, dass ein Bundesgericht dieses Gesetz für verfassungswidrig erklärt. Auf Obamas Anordnung wurden ohne gerichtliche Überprüfung bereits drei zu Al-Qaida gehörende US-Bürger ermordet, darunter auch Anwar al-Awlaki und sein 16-jähriger Sohn. Außerdem wird das Gefangenenlager in der Guantánamo Bay weiter benutzt, der Patriot Act bleibt in Kraft und die Befugnisse der Transportation Security Administration (TSA) wurden mit halsbrecherischer Geschwindigkeit ausgeweitet. Wie sehen Sie die Einstellung der US-Regierung zu den Menschenrechten in den letzten vier Jahren, und wie ist die Politik Obamas im Vergleich zu der seines Vorgängers George W. Bush zu bewerten?

Obamas Politik ist der Bushs sehr ähnlich, es gibt nur geringe Unterschiede; das ist auch keine große Überraschung. Die Demokraten haben ja Bushs Politik unterstützt. Um sich als Partei (von den Republikanern) abzuheben, haben sie zwar manchmal opponiert, waren aber grundsätzlich mit Bushs Politik einverstanden, und es kann niemanden überraschen, dass sie das auch heute noch sind. In mancher Hinsicht ist Obama sogar weiter als Bush gegangen. Der NDAA, den Sie erwähnt haben, wurde nicht von Obama in den Kongress eingebracht, und als dieses Gesetz verabschiedet wurde, sagte Obama, er billige es nicht und werde es nicht in Kraft setzen. Dann hat er aber auf ein Veto verzichtet und den NDAA trotzdem unterzeichnet. Das Gesetz wurde auch von (demokratischen) Falken wie Joe Lieberman mit durchgeboxt – tatsächlich hat kaum ein „Change“ (Wandel) stattgefunden. Das Schlimmste am NDAA ist, dass er eine (illegale) Praxis, die schon bestand, nachträglich legalisierte. Die (bereits vorher angewandten rechtswidrigen) Methoden haben sich dadurch nicht geändert. Die Bestimmung, die in der Öffentlichkeit am meisten Aufmerksamkeit erregte, haben sie schon erwähnt: die unbegrenzte Inhaftierung von US-Bürgern. Aber warum soll es überhaupt erlaubt sein, Bürger anderer Nationalitäten unbegrenzt wegzusperren? Das ist ein grober Verstoß gegen fundamentale Menschenrechte und gegen geltende Gesetze, ein Rückfall hinter die aus dem 13. Jahrhundert stammende Magna Charta – dieser schwere Angriff auf die elementaren Bürgerrechte hat zwar unter Bush begonnen, wurde aber unter Obama fortgesetzt. Er wurde und wird von beiden Parteien unterstützt. Zu den Tötungen (ohne Gerichtsverfahren) ist zu sagen, dass Obama diese weltweit betriebene Mordkampagne stark ausgeweitet hat. Bush hat zwar damit angefangen, aber Obama hat sie verstärkt und lässt auch US-Bürger ermorden. Auch das geschah wieder mit dem Einverständnis beider Parteien, nur bei der Ermordung des ersten US-Amerikaners gab es leise Kritik.