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Eine Frage des Käfigs

Grausam, bigott, verrückt, nutzlos – so beschreibt mittlerweile selbst ein deutscher Bundesrichter den andauernden „Krieg gegen die Drogen“. Obwohl er längst als verloren gilt, wird er unverdrossen weitergeführt. Den Feind, der angeblich bekämpft werden soll, schafft sich dieser Krieg dabei jeden Tag selbst aufs Neue. Gleichzeitig wird der Widerstand gegen den War On Drugs immer lauter. Eine der engagiertesten und eindringlichsten Stimmen dieses Widerstandes ist der Journalist Johann Hari.

Wenn die kürzlich verstorbene Nancy Reagan für nur eine einzige Sache im kollektiven Gedächtnis der USA hängen bleiben sollte, dann wird das sicher nicht einer ihrer Auftritte als Schauspielerin in längst vergessenen B-Movies der 50er und 60er Jahre sein, sondern wohl eher ihre „Just Say No!“-Kampagne, mit der sie Mitte der 80er Jahre der Drogensucht den Kampf ansagte und die bis heute nachwirkt. Der politische Kampf gegen die Drogen war zu dieser Zeit bereits seit Jahrzehnten im Gange. Aber es war vor allem die First Lady Mrs. Reagan, die daraus auch offiziell und medienwirksam den War On Drugs machte und Drogen zum Hauptfeind der Jugend erklärte. Zu dieser Zeit explodierte der amerikanische Drogenmarkt geradezu. Kokain und Amphetamine waren die bevorzugten Aufputschmittel an der Wall Street (und sicher auch des ein oder anderen Angestellten im Weißen Haus), während Crack seinen Siegeszug durch die ärmeren Schichten der Bevölkerung antrat. Die schlichte und naive Antwort von „Just Say No!“ darauf lautete: Drogen sind böse, machen krank und selbst der minimalste Konsum führt unweigerlich in den Untergang. Wehret den Anfängen! Sag einfach „Nein“! Der Krieg gegen die Drogen wurde aber natürlich nicht nur über Aufklärungs-Kampagnen geführt. Die wohl drastischste Begleiterscheinung von Nancy Reagans Sorge um das Wohl der Jugend war eine immer großzügiger finanzierte Verfolgungs- und Bestrafungs-Industrie, die große Teile gerade der jungen Bevölkerung kriminalisierte.

Und heute? Noch immer wird im Namen der Moral und des Jugendschutzes in den meisten Ländern eine konsequente Drogen-Prohibition und Strafverfolgung praktiziert. Allein die USA geben jährlich Milliarden dafür aus. Erst im letzten Jahr hat Barack Obama das entsprechende Budget noch einmal um fast eine Milliarde auf insgesamt 27,6 Milliarden Dollar erhöht. Allein die Hälfte dieser Summe wird in die Strafverfolgung investiert. Im Jahr 2015 saßen 48 Prozent aller US-amerikanischen Strafgefangenen für Drogendelikte ein, viele davon für den Besitz und Konsum von nur  geringen Mengen weicher Drogen. Wenn man bedenkt, dass ein Großteil dieser Gefangenen in privat geführten Gefängnissen sitzt, wird klar, wer vor allem von dieser Situation profitiert. Als Lichtblick kann hier aber immerhin die aktuelle Entwicklung bei der Cannabis-Legalisierung in einigen US-Bundesstaaten angesehen werden. Obama selbst hat schließlich während seiner zweiten Amtsperiode eingeräumt, dass er die bisherige Drogenpolitik zumindest in Hinblick auf Cannabis für ineffektiv und ungerecht hält. Ein kleiner Teil seines aktuellem Anti-Drogen-Budget soll daher auch für die Begleitung der Cannabis-Legalisierung in Washington DC ausgegeben werden. Es ist ein kleiner Fortschritt mit Baby-Schritten. Die vollständige Entkriminalisierung aller Drogen gilt vor allem in konservativen politischen Kreisen noch immer als Tabu. Dabei gibt es gleichzeitig immer mehr prominente und progressive Stimmen, die genau das befürworten. Und es gibt inzwischen in Ländern wie Uruguay und Portugal auch beeindruckende Belege dafür, welche positiven gesellschaftlichen Auswirkungen ein radikales Umdenken in der Drogenpolitik haben kann.

Der britische Journalist Johann Hari fing zunächst aus ganz persönlichen Gründen an, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Sucht und Abhängigkeit sind Teil seiner eigenen Familiengeschichte. Die Frage „Wie entsteht eigentlich Drogensucht?“ führte ihn schließlich auf eine dreijährige Recherche-Reise zu den unterschiedlichsten Schauplätzen des internationalen Drogenkrieges. In seinem 2015 veröffentlichten Buch „Chasing the Scream: The First and Last Days of the War on Drugs“ beschreibt Johann Hari die Hintergründe dieses Krieges sowie dessen Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Hari schildert ausführlich die Anfänge von Harry Anslingers  rassistisch motivierter Cannabis-Prohibition in den USA der 30er Jahre und er porträtiert Menschen weltweit, deren Leben unmittelbar vom Krieg gegen die Drogen beeinflusst wird. Dazu sprach er unter anderem mit einer transsexuellen Crack-Dealerin in Brooklyn, einem minderjährigen Auftragskiller in Mexiko, Strafgefangenen in Arizona sowie mit dem portugiesischen Wissenschaftler João Goulão, der maßgeblich an der Entkriminalisierung sämtlicher Drogen in seinem Land beteiligt war.

Gerade Portugal führt Hari als praktisches und positives Beispiel für eine neue Art der Drogenpolitik an. Als dort 2001 die landesweite Entkriminalisierung in Kraft trat, prognostizierten die Vereinten Nationen den Portugiesen eine düstere Zukunft: ein ausufernder Konsum harter Drogen, der explosionsartiger Anstieg von Gewalt und Kriminalität, immer mehr Kranke und Abhängige sowie ein unkontrollierbarer Drogentourismus – kurz: eine soziale Katastrophe. Die Realität sieht allerdings anders aus. 15 Jahre später ist der allgemeine Drogenkonsum in Portugal gerade unter jungen Leuten stark gesunken, Drogeninduzierte Todesfälle sowie HIV-Infizierungen haben abgenommen und die öffentlichen Ausgaben für den Strafvollzug konnten deutlich gesenkt werden. Das dabei eingesparte Geld wurde vor allem in Beratungs- und  Rehabilitations-Programme gesteckt. Denn das eigentliche Problem – und dies ist wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse, die Johann Hari uns vermitteln kann – sind nicht die Drogen selbst, sondern Perspektivlosigkeit und gesellschaftliche Ausgrenzung. Oder wie er es selbst formuliert: „Das Gegenteil von Sucht heißt nicht Nüchternheit. Das Gegenteil von Sucht heißt Gemeinschaft.“

Ein Gesprächspartner, der Hari bei seinen Recherchen besonders beeindruckt hatte, ist der kanadische Psychologe Bruce Alexander. Dieser ging mit seinen „Rat Park“-Experimenten bereits in den 70er Jahren der Ursache von Drogensucht auf seine ganz eigene Art nach. Eine damals weit verbreitete Überzeugung, die sich bis heute hartnäckig hält, lautete: jeglicher Drogen-Konsum führt zur Sucht, sozusagen automatisch. Die Droge überfällt demnach unser Gehirn wie ein Parasit und treibt uns durch chemische Manipulation willenlos in die Abhängigkeit. Wird also jemand Heroinabhängig, ist das Heroin Schuld. Unterstützt wurde diese Überzeugung lange Zeit durch schlichte Experimente mit Labor-Ratten. Steckte man diese in einen Käfig mit zwei Trinkflaschen – jeweils gefüllt mit reinem und mit Drogen versetztem Wasser (meist  mit Heroin oder Kokain) – so bevorzugten die Ratten fast ausschließlich das Drogenwasser und verreckten früher oder später immer an einer Überdosis. „Just Say No!“ würde dadurch also durchaus Sinn machen. Bringt man nun aber die medizinische Verwendung von harten Drogen ins Spiel, kommen erste Zweifel an der Beweiskraft solcher Experimente. Dazu nur ein Beispiel: in vielen Krankenhäusern weltweit wird Diamorphin zur Schmerzbehandlung nach operativen Eingriffen eingesetzt. Diamorphin ist nichts anderes als pharmazeutisch hergestelltes Heroin. In Deutschland wird es unter anderem auch in der Substitutions-Behandlung von stark Abhängigen eingesetzt. Würde nun Heroin automatisch zur Heroinsucht führen, so müssten doch beispielsweise regelmäßig Heerscharen von Senioren nach ihrer Hüft-Operation das Krankenhaus als schwerst abhängige Junkies verlassen.

Bruce Alexander fragte sich nicht nur deshalb, ob an dem alten Ratten-Experiment eventuell etwas nicht stimmen könne. Schließlich hatten die armen Tiere in ihrem kleinen Käfig ja nichts anderes zu tun als aus den beiden Flaschen zu trinken. In dieser öden Situation ist die Entscheidung für das Drogenwasser  nachzuvollziehen – lieber am Rausch sterben als sich zu Tode langweilen!  Alexander schuf darauf hin eine Alternative zu dem Käfig. Er baute eine Art Vergnügungspark für Ratten, in dem er ihnen allerhand Möglichkeiten zum Zeitvertreib bot. In diesem Park gab es ausreichend Essen, Auslauf, Spielzeug und die Gesellschaft anderer Ratten. Und es gab wieder die beiden Trinkflaschen. Erstaunlicherweise war das Drogenwasser im „Rat Park“ nun nicht mehr so beliebt. Nur noch wenige Ratten probierten davon und keines der Tiere starb mehr an einer Überdosis. Sie hatten Besseres zu tun. Was Bruce Alexander damit nachwies, kann tatsächlich auch auf das Verhältnis des Menschen zu Drogen übertragen werden. Die Ursache für Abhängigkeit liegt demnach nicht in der Anfälligkeit unseres Gehirns für chemische Substanzen, sondern in der Gestaltung unserer Lebensumstände, in der Wahl von möglichen Alternativen. Was die Befürworter der Drogen-Prohibition nämlich auch gerne ignorieren, ist die hohe Zahl der „funktionierenden“ Konsumenten, jene Menschen, die mehr oder weniger regelmäßig Drogen konsumieren, ohne davon krank oder abhängig zu werden. Man geht davon aus, dass deren Anteil sogar bis zu 90 Prozent aller Drogen-Konsumenten beträgt. Rauschmittel waren schon immer Teil der menschlichen Gesellschaft. Zum Problem wurden sie erst durch die Prohibition. Es ist also keine Frage der Substanz, es ist eine Frage des Käfigs.

In diesem Zusammenhang wirkt eine der Begegnungen, die Johann Hari in „Chasing the Scream“ beschreibt, besonders absurd und menschenverachtend. In einem wegen seiner harten Methoden berüchtigten Gefängnis in Arizona traf er auf eine Gruppe von Frauen, die dort wegen Drogendelikten einsitzen, viele von ihnen nur wegen ihres persönlichen Konsums. Als Sträflingskolonne müssen die Frauen dort nun öffentliche Strafarbeiten ableisten. Dabei werden sie gezwungen, Gruppengesänge zu skandieren, in denen sie sich selbst als Drogenabhängige bezeichnen, während sie T-Shirts mit der gleichen Botschaft tragen müssen. Die Frauen beschreiben ihren Situation in diesem Gefängnis als persönliche Hölle, als erniedrigend und ausweglos. Wenn es nun aber gerade Isolation und Ausweglosigkeit sind, die Menschen in die Sucht und damit in die Illegalität treibt, so scheint es geradezu wahnsinnig, diese Menschen durch Bestrafung und öffentliche Demütigung noch mehr auszugrenzen. Johann Hari beschreibt, wie sich durch diesen Teufelskreis der Krieg gegen die Drogen seinen Feind jeden Tag wieder aufs Neue erschafft. Denn trotz Verbot und Strafverfolgung steigt der Konsum harter Drogen weltweit immer noch weiter an.

Wie schon erwähnt, mehren sich die Stimmen, die ein radikales Umdenken in der Drogenpolitik fordern. Jüngst provozierte der „Virgin“-Milliardär Richard Branson mit der eigenmächtigen Veröffentlichung eines internen Berichtes der UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime). Branson ist Mitglied der Global Commission on Drug Policy und engagiert sich bereits seit Jahren für die Entkriminalisierung aller noch illegalen Drogen. In diesem Zusammenhang hatte er auch Zugang zu einem Papier, in dem offenbar genau dies auf Regierungsebenen empfohlen werden sollte. In dem von Branson geleakten Dokument werden detailliert die negativen sozialen Folgen der Kriminalisierung des Drogenkonsums aufgezählt. Offiziell bestätigen wollte die UNODC den Inhalt dieses Dokumentes bisher nicht. Dennoch kann es wohl als Anzeichen für die Dringlichkeit des Themas angesehen werden.

Auch in der deutschen Öffentlichkeit ist diese Dringlichkeit inzwischen angekommen. Man brauchte eigentlich nicht erst abwarten, bis Volker Beck von den Grünen mit Crystal Meth erwischt wird, um zu begreifen, dass Drogen in allen Schichten der Gesellschaft präsent sind und dass auch eine andauernde Kriminalisierung daran nichts ändern wird. Derzeit werden in Deutschland mehr als Sechs Milliarden Euro für die Repression und die Strafverfolgung von Drogendelikten ausgegeben. Und mehr als eine halbe Milliarde für Alkoholwerbung. Auf der anderen Seite werden nur etwa  30-40 Millionen Euro in die Prävention investiert. Sehr deutliche Worte für diese Zustände fand Ende letzten Jahres der bekannte Jurist Thomas Fischer, immerhin vorsitzender Richter des Bundesgerichtshofes. In seiner ZEIT Online-Kolumne „Fischer im Recht“ schrieb er unter anderem:

„Über Prohibition ist hundertmal alles gesagt. Sie ist absurd, unvernünftig, kontraproduktiv. Grausam, bigott, verrückt, nutzlos. Albern. Selbsttragend, zirkelschlüssig, menschenverachtend, verlogen. Niemals und durch nichts ist ‚Verbrechen‘ so befördert worden wie durch die Prohibition von Drogen. Das galt in den zwanziger Jahren in den USA im Hinblick auf Alkohol; es gilt mindestens gleichermaßen seit den fünfziger Jahren im Hinblick auf andere Drogen. Erneut unter Führung der bigotten Abstinenzmoral der USA findet seit vier Jahrzehnten ein sogenannter War on Drugs statt, der zwar viele Ingredienzien einer drogeninduzierten Horrorvision aufweist, aber kaum rationalen Anteil. […] Das Betäubungsmittel-Strafrecht in Deutschland ist ein großes Elend. Es produziert Elend, und trägt es fort und fort. Nichts ist in den letzten 40 Jahren dadurch besser geworden: weder gibt es weniger Süchtige noch weniger Straffällige noch weniger soziale Probleme. Was es gibt, ist allerdings eine gigantische, milliarden-verschlingende Prohibitionsindustrie, die die Preise hoch, die Qualität der Drogen miserabel und das Elend der Abhängigen konstant hält.“

 

Das ist zumindest ein rhetorisches Todesurteil. Wann dieser sinnlose Krieg tatsächlich auch weltweit beendet wird, ist vielleicht noch nicht abzusehen. Aber die Anzeichen für einen Wandel mehren sich. Die Unterstützung für den War On Drugs nimmt immer mehr ab, der öffentliche Protest dagegen wächst weiter. Dort, wo bereits positive Erfahrungen mit einer vollständigen Entkriminalisierung gemacht wurden, möchte niemand mehr zu den alten Verhältnissen zurück.

Johann Haris Buch ist inzwischen auch auf deutsch unter dem Titel „Drogen – die Geschichte eines langen Krieges“ erschienen. Sein Engagement gegen den War On Drugs und für eine menschliche, aufgeklärte Drogenpolitik geht weiter.

Weitere Informationen auf: chasingthescream.com