Kalter-Krieg-2.0

Ein neuer Kalter Krieg in Europa?

Dass Wladimir Putin eigene und vom Westen unabhängige Ziele verfolgt, wird hierzulande wahlweise mit Schrecken und Bewunderung wahrgenommen. Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland sind empfindlich gestört, aber doch komplexer, als es auf den ersten Blick aussieht. Das weiß auch George Friedmann, Direktor der US-amerikanischen Denkfabrik Stratfor. Ist ein Krieg zwischen den beiden Staaten wirklich im Interesse der USA?

„Moskau, Moskau! Wirf die Gläser an die Wand, Russland ist ein schönes Land – hahahahaha-hey!“ Beginnen wir also gleich  mit einem Griff in die unterste Klischee-Schublade. Fast jeder kennt den Text dieses alten Party-Schlagers. Aber könnte man das Lied heute noch ohne Bedenken in Deutschland veröffentlichen? 1979, als die Gruppe Dschinghis Khan mit „Moskau“ die westdeutschen Hitparaden stürmte, standen sich die beiden deutschen Staaten noch als Speerspitzen eines kalten Krieges zwischen den beiden Supermächten USA und UDSSR gegenüber. Zu lachen gab es eigentlich schon damals wenig im deutsch-russischen Verhältnis. Für die einen der finstere kommunistische Ivan, für die anderen der ideologisch verordnete große Bruder – das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland war komplex bis angespannt. Wenig später, Anfang der 80er Jahre, machten sich in Europa die Spannungen zwischen den beiden Systemen dann in einer sehr realen Angst vor einem Atomkrieg bemerkbar, die erst einige Jahre später durch den politischen Zerfall des Ostblocks endgültig überwunden schien. Weitere 25 Jahre später befinden wir uns nun erneut in einer Art kaltem Krieg. Und die Angst vor einem neuen „heißen“ Krieg wächst. Die mediale Stimmung im wiedervereinigten Deutschland scheint beim Thema Russland nun schon seit einigen Jahren im wahrsten Sinne des Wortes eingefroren zu sein. Das unbedarfte „Russland ist ein schönes Land – hahahahaha-hey!“ kommt niemandem mehr wirklich leicht über die Lippen, es sei denn in Form von Satire. Jene Stimmen, die öffentlich für ein Verständnis gegenüber der russischen Haltung werben, sind in der Minderheit, und schnell machen sie sich verdächtig, als „Putin-Versteher“ mit fragwürdiger politischer Haltung dazustehen. Da die „öffentliche Meinung“ und die veröffentlichte Meinung nur selten übereinstimmen, kam es im letzten Jahr in den Leserforen und Facebook-Seiten großer deutscher Nachrichtenmagazine zu massenhaften Protesten aufgrund einer einseitigen Berichterstattung über den Ukraine-Konflikt. Die Reaktion der meisten betroffenen Medien war fatal: Den Lesern wurde im Gegenzug einseitige Stimmungsmache vorgeworfen, ja sogar von einer vom Kreml bezahlten Meinungsmafia war die Rede. Teilweise wurden die öffentlichen Kommentarfunktionen sogar geschlossen. So funktioniert kalter Krieg: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Und wer die falsche Meinung vertritt, ist möglicherweise von der Gegenseite bezahlt. Dabei kann Deutschland eigentlich nur von einem friedlichen Verhältnis zu Russland profitieren, allein schon durch die geografische Nähe, nicht zuletzt aber auch wirtschaftlich. Wie kam es also zu dieser Verhärtung zwischen Merkels Deutschland und Putins Russland?

Es steht außer Frage, dass es an Putins Innen- und Außenpolitik einiges zu kritisieren gibt. Es fragt sich aber, mit welchen Maßstäben. Dass Putin kein ausgesprochener Befürworter von Menschenrechten und Pressefreiheit nach westlichem Verständnis ist, dürfte klar sein. Das ist man in China allerdings auch nicht, einem Land, mit dem Deutschland sehr lukrative wirtschaftliche Beziehungen pflegt. Der wirkliche Grund für die neue politische Eiszeit Russland gegenüber scheint aber geopolitischer Natur zu sein. Seit dem Ende der UDSSR kämpfen die zahlreichen ehemaligen nichtrussischen Sowjetrepubliken um Unabhängigkeit und der Westen um den Anschluss eben jener Gebiete an die europäische Union und die NATO. Die Grenze zwischen dem einstigen Ost- und Westblock hat sich seitdem – sehr zu Ungunsten Russlands – immer mehr nach Osten verschoben. Ob sich das russische Territorium dabei verkleinert hat oder nur auf seine ursprüngliche Größe zurückgeschrumpft ist, liegt ganz daran, von welchem Standpunkt aus man die Situation betrachtet. Mit Wladimir Putin hat Russland einen Präsidenten, der ganz eindeutig eigene, vom Westen unabhängige Ziele verfolgt, was hierzulande wahlweise mit Schrecken und Bewunderung wahrgenommen wird. Eines dieser Ziele scheint nun die Rückeroberung einstiger russischer Gebiete zu sein. Spätestens seit dem Kaukasus-Krieg in Georgien 2008 und erst recht seit dem Konflikt in der Ukraine 2014 gilt dies nach westlicher Einschätzung als kriegerisch und völkerrechtswidrig. Man kann Putin aus dieser Perspektive also als Aggressoren sehen oder auch einfach als militärischen Strategen, der russische Interessen in Gebieten verteidigt, in denen der Westen seine eigenen geopolitischen Interessen bereits seit mehr als 20 Jahren wahrnimmt. Denn die NATO und die USA stehen längst direkt vor seiner Haustür.

Dazu meinte Putin auf einer Pressekonferenz in diesem Jahr: „Sind wir es etwa, die mit Streitkräften an die Grenzen der USA oder anderer Staaten vorrücken? Führt man mit uns irgendeinen Dialog darüber? Nein. Uns sagt man immer nur eines: Es geht sie nichts an. Jedes Land hat das Recht, seine Methode der Gewährleistung seiner Sicherheit zu wählen. Na gut, dann werden auch wir dasselbe tun. Warum sollte es uns verboten sein, das zu tun?“

Die speziellen Methoden, mit denen die unterschiedlichen Interessen im jüngsten Krisenherd, der Ost-Ukraine, durchgesetzt wurden, waren von außen betrachtet irgendwann nicht mehr nachvollziehbar. Nicht nur „Putin-Versteher“ fragten sich, wer an der Destabilisierung dieser und anderer Grenzregionen zu Russland eigentlich beteiligt ist. Wie so oft tauchten bei der Beantwortung dieser Frage die USA auf: Der klassische Global Player und Buhmann des politischen Weltgeschehens. Als transatlantischer Partner Deutschlands und der EU haben die USA natürlich ein starkes Interesse an der Entwicklung der europäischen Außengrenzen. Abgesehen davon verfolgen sie aber schon immer auch ihre eigenen geopolitischen Ziele und setzen dabei auf offene oder verdeckte militärische Aktionen. Wie weit geht nun aber tatsächlich der amerikanische Einfluss auf die NATO-Osterweiterung und die neuen Konflikte mit Russland?

In diesem Zusammenhang ist die Rolle einer einflussreichen US-Denkfabrik namens Stratfor interessant. Stratfor (eine Abkürzung für Strategic Forecasting) ist ein 1996 gegründeter Think Tank, der weltweit Wirtschaftsunternehmen und Regierungen mit ökonomischen und politischen Risiko-Einschätzungen versorgt. Unter seinen Kunden befinden sich unter anderem die Bank Of America, das US-Außenministerium, Apple und Microsoft. Obwohl von Medien auch schon mal als „Schatten-CIA“ bezeichnet, agiert Stratfor keineswegs geheim. Seit seiner Gründung veröffentlicht Stratfor einen täglichen Bericht zu aktuellen Entwicklungen, den jeder Interessent per Abo im Internet abrufen kann. Unter den Abonnenten befinden sich auch zahlreiche Journalisten und Privatpersonen. Die Stratfor-Berichte zeichnen sich vor allem durch nüchterne und realistische Einschätzungen aus, die, im Gegensatz zu vielen anderen Nachrichtendiensten, auf ideologische Einfärbungen weitestgehend verzichten. Man könnte auch sagen: Sie nehmen kein Blatt vor den Mund. Was George Friedmann, Gründer und Direktor von Stratfor, Anfang 2015 auf einer Pressekonferenz des ”Chicago Council on Global Affairs” zur aktuellen Lage in Europa zu berichten hatte, ließ in seiner Deutlichkeit dann auch so manchem Zuhörer die Kinnlade herunterklappen. Seit das dazugehörige Video im Februar auf Youtube veröffentlicht wurde, verbreitete sich die Meinung, hier würde ein geheimer Plan der US-Regierung offengelegt werden, der nichts anderes vorsieht als einen Krieg zwischen Deutschland und Russland anzuzetteln. Starker Tobak, in der Tat. Hört man sich die Ausführungen Friedmanns aber tatsächlich einmal in voller Länge an, so scheint diese Interpretation doch etwas übertrieben. Leider scheinen sich viele diese Mühe aber nicht mehr zu machen. Bezeichnenderweise hat dann auch ein Video mit dem Titel „UNFASSBAR!!! US-Hauptziel IST KRIEG in Europa“, das lediglich aus dem Zusammenhang gerissene Ausschnitte aus Friedmanns Rede präsentiert, auf Youtube mehr Klicks als das Original-Video mit der unkommentierten und ungekürzten Rede Friedmanns. Das Hauptziel der USA soll ein Krieg in Europa sein? Das Hauptziel vieler empörter Social Media Aktivisten scheint auf jeden Fall eher Hysterie als Aufklärung zu heißen. Ich will versuchen, zumindest ein klein wenig mehr Klarheit in die Sache zu bringen.

Tatsächlich schildert Friedmann seine Einschätzung der politischen Lage in Europa und dem Rest der Welt mit einer verblüffenden und gerade für Europäer ungewohnten Offenheit. Das bemerkenswerteste daran ist wohl seine Geringschätzung der Europäischen Union gegenüber. Die EU ist für ihn ein nicht mehr konkurrenzfähiges wirtschaftliches und politisches Auslaufmodell. Einzig die deutsch-russischen Beziehungen sieht er als entscheidend für die künftige Entwicklung Europas an. Er gibt offen zu, dass die USA für die Durchsetzung ihrer geopolitischen Ziele bewusst auf Destabilisierung bestimmter Regionen setzen und dass die sogenannte „Orange Revolution“ in der Ukraine seinerzeit auch mit Hilfe der Amerikaner inszeniert wurde. Er erklärt, dass die USA einen Sicherheitsgürtel vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer aufbauen, weil ihnen bewusst ist, dass Putin es nicht hinnehmen wird, dass die Ukraine ins westliche Lager abdriftet.

Deutschland allerdings bleibt für ihn eine unwägbare Größe. Aus dem politisch linken Lager wird Angela Merkel ja gerne markig als „Vasallin“ Washingtons kritisiert. Nach der Einschätzung George Friedmanns spielt Merkel aber durchaus mit eigenen Karten, in die Washington eben nicht immer Einsicht hat. Laut Friedmann fühlen sich die USA von einem möglichen Bündnis zwischen Deutschland und Russland schon lange potentiell bedroht und versuchen, dies zu verhindern. Daraus jetzt aktuelle und konkrete Kriegspläne abzuleiten, scheint mir aber, wie schon gesagt, reichlich übertrieben. Anfang der 80er Jahre, als ein Atomkrieg in Europa wesentlich wahrscheinlicher schien, haben die USA und die UDSSR dies bei allem ideologischen Säbelrasseln aus guten Gründen zu verhindern gewusst. Weshalb sollte ein derart gefährlicher Plan also plötzlich im Interesse der USA sein? Die Einschätzungen George Friedmanns scheinen hart und teilweise zynisch zu klingen. Zumindest sind sie ehrlich. Es bleibt aber fraglich, welchen Einfluss sie am Ende tatsächlich auf die amerikanische Außenpolitik der Zukunft haben. Als Berater der noch amtierenden Obama-Administration hat Stratfor keinen sehr großen Stellenwert. Trotzdem sollte man deren Einschätzungen natürlich ernst nehmen. Sollten Friedmanns Äußerungen nur ansatzweise mit dem aktuellen Vorgehen der NATO übereinstimmen – und zum Teil tun sie das bereits – ist ein Ende des neuen kalten Krieges mit Russland wohl nicht absehbar. Und offenbar auch nicht gewollt.

Um sich aber selbst eine Meinung zu George Friedmanns Analysen zu machen, kann ich nur empfehlen, sich das berüchtigte Video vom „Chicago Council on Global Affairs“ einmal selbst vorurteilsfrei und in voller Länge anzuschauen. Interessant ist vor allem Friedmanns Statement ganz am Ende der Pressekonferenz. Auf die Frage, ob es denn im Interesse der USA sei, Russland von Europa abzulösen, antwortete er zusammengefasst:

“Niemand hat jemals dauerhaft Russland besetzt, aber Russland hat sich immer schon nach Westen ausgedehnt. Die derzeitige westliche Grenze besteht im Groben an den Staatsgrenzen der baltischen Länder, Weißrussland und der Ukraine.“

Die Frage, die für die Russen nun entscheidend ist: Werden sie es schaffen, in diesen Ländern eine zumindest neutrale Pufferzone zu erhalten oder wird der Westen so weit in die Ukraine vordringen, dass er praktisch nur noch 70 Meilen von Stalingrad entfernt sein wird und 300 Meilen von Moskau? Der politische Status der Ukraine ist für Russland von existenzieller Bedeutung. Für die USA bedeutet das: Sollte Russland an der Ukraine festhalten, wo werden sie dann Halt machen? Daher haben wir unter anderem Truppen in Rumänien, Polen und den baltischen Staaten stationiert. Das ist das, was wir als Intermarum bezeichnen, eine Linie vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer, das ist die Lösung des Problems für die USA. Die einzige Frage, auf die wir keine Antwort haben, ist: Was wird Deutschland tun? (…) Wir kennen die deutsche Position nicht. (…) Der frühere deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder ist Vorstandsmitglied bei Gazprom. Deutschland hat ein sehr komplexes Verhältnis zu Russland. Die Deutschen wissen zur Zeit selbst nicht, was in dieser Situation zu tun ist. (…) Die USA nehmen die Kombination aus deutschem Kapital, deutscher Technologie und den russischen Rohstoffen als große Bedrohung wahr. Was wird sich daraus entwickeln? (…) Wer auch immer mir sagen kann, was die Deutschen jetzt unternehmen werden, der weiß, wie sich die nächsten 20 Jahre der Geschichte entwickeln werden. (…) An der deutschen Frage wird sich die Geschichte Europas entscheiden. Wir wissen im Augenblick jedenfalls nicht, was zu tun ist.“

Weiß die deutsche Regierung denn, was zu tun ist? Als größte Wirtschaftsmacht Europas ist Deutschland abhängig von seinen Exporten, also von einem möglichst freien Handel, auch mit Russland. Einen wirklichen Konflikt, ganz zu schweigen von einem „heißen“ Krieg, kann sich Deutschland weder wirtschaftlich noch politisch leisten. Eine Annäherung an Putin dagegen würde aber offenbar die USA nervös machen, der Deutschland durch seine NATO-Mitgliedschaft verbunden ist. Während Stratfor nun weiter seine täglichen Berichte veröffentlicht, wäre uns aber wohl schon geholfen, wenn sich aus dem derzeitigen kalten Krieg wieder ein vorübergehendes Tauwetter entwickeln könnte. Das ist wohl alles, was wir zur Zeit wissen.