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Kurzbericht „Cannabis“ des Bundesgesundheitsministeriums

Vor kurzem veröffentlichte das deutsche Bundesministerium für Gesundheit einen ausführlichen „Kurzbericht“ über das Potential und die Risiken von Cannabis. Dieser Bericht stellt somit die aktuelle Meinung der Bundesregierung zum Thema Cannabis dar – und da liegt leider immer noch so einiges im Argen. Vermutlich hätten ähnliche Untersuchungen in Schleswig-Holstein oder Berlin andere Rückschlüsse hervorgebracht, aber in München ist die Skepsis gegenüber Cannabis im nationalen Vergleich verhältnismäßig hoch, was sich auch in vielen Schlussfolgen des nun folgenden „Kurzberichts“ widerspiegelt, den wir hier 1-zu-1 übernommen haben: 

 

Thema:  Cannabis: Potential und Risiken. Eine wissenschaftliche Analyse (CaPRis) 

Schlüsselbegriffe: Cannabis, Cannabinoide, Cannabisarzneimittel 

Ressort, Institut: Bundesministerium für Gesundheit

Auftragnehmer(in): Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, LMU München

Projektleitung: PD Dr. Eva Hoch, PD Dr. Miriam Schneider

Mitarbeiter(innen): Dr. Chris Maria Friemel, Dr. Rupert von Keller, BA Johannes Kabisch 

Beginn: 01. 10. 2015 

Ende: 30. 09. 2017

 

Vorhabenbeschreibung, Arbeitsziele 

In den letzten 25 Jahren zeigte sich eine erstaunlich rasante Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Wirkung von Cannabinoiden – den Inhaltsstoffen der Hanfpflanze Cannabis sativa. Die Entdeckung des Endocannabinoid Systems (Teil des Nervensystems) und seiner vielfältigen Funktionsweisen haben eine systematischere Erforschung der Anwendung von Cannabis als Arzneimittel stimuliert. In der letzten Dekade ist auch ein deutlicher Anstieg der wissenschaftlichen Literatur zu vermerken, die sich mit den Risiken des Cannabiskonsums im Freizeitgebrauch befasst. Um das Potential von Cannabinoiden als Arzneimittel und die Risiken des Cannabis-Freizeitgebrauchs adäquat einschätzen zu können, ist ein kontinuierlicher Abgleich des Forschungsstandes notwendig. Mit diesem Forschungsprojekt sollte der aktuelle wissenschaftliche Kenntnisstand zu den Risiken des Cannabis- Freizeitkonsums und zu dem Potential von Cannabisarzneimitteln wissenschaftlich analysiert und dargestellt werden. Es sollte eine objektive, valide und an der besten wissenschaftlichen Evidenz orientierte Bewertung der in den letzten zehn Jahren publizierten Daten erfolgen:

  1. Zu den psychischen, organischen und sozialen Folgen des Konsums von pflanzlichen und synthetischen Cannabisprodukten zum Freizeitgebrauch,
  2. zu der Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln bei organischen und
    psychischen Erkrankungen sowie
  3. zu den Motiven und Erwartungen eines nicht-ärztlich verordneten Gebrauchs von Cannabis (d.h. im Sinne einer Selbstmedikation).

 

Durchführung, Methodik

Gemäß der für die Durchführung von systematischen Literaturrecherchen gültigen internationalen Standards [v.a. dem „Cochrane Handbook of Systematic Reviews“ (Higgins & Green, 2013) und dem „Regelwerk der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften“ (AWMF, 2012)] wurde ein umfassendes Review erstellt. Für die zu bearbeitenden Themenbereiche wurden zunächst klinische Fragen für die verschiedenen, zu recherchierenden Aspekte formuliert. Diese Reviewfragen wurden von 30 nationalen und internationalen Expertinnen und Experten konsentiert und von der Projektgruppe in „Medical Subject Headings(MeSh)-Terms“ (https://meshb.nlm.nih.gov/ search) verschlagwortet. Mit diesen Begriffen wurden Suchbefehle erstellt und pilotgetestet. Die anschließende Recherche erfolgte in den Datenbanken PubMed (Zugriff auf 27 Millionen Zitationen), Medline (Zugriff auf 5.600 Zeitschriften), PsycINFO (Zugriff auf 2.500 Zeitschriften), EMBASE (Zugriff auf 8.300 Zeitschriften, davon 2.900, die nicht in Medline enthalten sind) und der Cochrane Data Base of Systematic Reviews (Zugriff auf 10.002 Einträge).

Es wurden folgende Einschlusskriterien festgelegt: Englische oder deutsche Sprache, Publikationszeitraum: seit 1.1.2006, nur Humanforschung.

Einzuschließende Studientypen: Systematische Reviews, Meta-Analysen, randomisiert-kontrollierte Studien, Kohortenstudien, Fall- Kontrollstudien (Teil A und C) sowie Systematische Reviews, Meta-Analysen und randomisiert-kontrollierte Studien (Teil B).

Zu untersuchende Zielgruppen:

a.) Personen mit Cannabiskonsum zum Freizeitgebrauch oder

b.) mit einer diagnostizierten körperlichen oder psychischen Symptomatik.

Zu untersuchende Bedingungen / Interventionen:

a.) Kurz- oder langfristige körperliche, psychische oder soziale Folgen im Zusammenhang mit Cannabiskonsum zum Freizeitgebrauch,

b.) Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln.

Kontrollgruppen:

a.) Personen der Allgemeinbevölkerung ohne Gebrauch von pflanzlichen oder synthetischen Cannabinoiden,

b.) Placebogabe oder Medikation mit einem anderen Arzneimittel.

Im Rahmen der Expertise wurden von Januar 2016 bis Mai 2017 insgesamt 10 umfassende Rechercheläufe durchgeführt: Eine Globalrecherche nach Systematischen Reviews und Meta-Analysen (469 Treffer), eine Aktualisierungsrecherche des bisher umfassendsten Systematischen Reviews mit Meta-Analyse von Whiting et al. (2015) nach Systematischen Reviews und Meta-Analysen zu medizinischen Cannabinoiden (417 Treffer) und 10 de-novo Recherchen (Teil A „Freizeitgebrauch“: synthetische Cannabinoide: 132 Treffer, Kognition: 164 Treffer, organische Störungen: 575 Treffer, Angststörungen: 47 Treffer, Depression und Suizidalität: 124 Treffer, Bipolare Störungen: 39 Treffer, Teil B „Cannabisarzneimittel“: Psychische Erkrankungen: 145 Treffer, Selbstmedikation: 61 Treffer). Die Suchläufe und Datenextraktion wurden von der Projektgruppe durchgeführt. Alle gefundenen Titel und Abstracts wurden unabhängig von zwei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern systematisch überprüft und auf Erfüllung der Ein- und Ausschlusskriterien geprüft. Im Konfliktfall wurde ein/e dritte/r Experte/in mit besonderer Fachkenntnis hinzugezogen. Die Ergebnisse der Suchläufe wurden in standardisierten Flow-Charts (nach PRISMA, 2009) dargestellt. Eingeschlossene Arbeiten wurden auf ihre methodische Qualität geprüft (mittels SIGN- oder ROBIS-Checklisten). Mängel in der Güte und Risiken für einen „Bias“ (systematischen Fehler) wurden analysiert. Für jede Studie wurde ein Evidenzgrad vergeben (nach Oxford Centre for Evidence Based Medicine, 2011), um die formale und inhaltliche Qualität zu beschreiben. Die Datenextraktion erfolgte mittels standardisierter Formulare. Für alle Studien wurden Evidenztabellen erstellt (nach NICE, 2011). Eine Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse (nach CERQual) (Lewin et al., 2015), basierend auf der Studienanzahl, Qualität und Konsistenz der Ergebnisse, wurde vorgenommen. Die Ergebnisdarstellung, qualitative Datensynthese, Beantwortung der Fragestellung wurde von der Projektgruppe vorbereitet. Es erfolgte ein Begutachtungsprozess durch die beteiligten Expertinnen und Experten. Eine „Deklaration von Interessen“ war die Voraussetzung für die Mitarbeit an der Expertise. Hierfür wurde ein Standardformular der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) verwendet. Gemäß den Empfehlungen von Transparency Deutschland e.V. werden diese Deklarationen zusammen mit der Expertise veröffentlicht. Die Expertise wurde vor Studienbeginn in der britischen Projektdatenbank für Systematische Reviews PROSPERO registriert (https://www.crd.york.ac.uk/prospero/).

 

Gender Mainstreaming 

Bei der Datenanalyse wurden geschlechts- und altersspezifische Effekte dezidiert untersucht. Die vergleichende Übersicht der Daten erfolgte für beide Faktoren spezifisch. Entsprechende Befunde wurden in einem gesonderten Kapitelabschnitt berichtet. Bei unzureichender Datenlage wurden Forschungsersuchen ausgesprochen. Darüber hinaus wurde in der Einleitung der vorliegenden Expertise eine ausführliche Literaturübersicht bezüglich der physiologischen Hintergründe und Mechanismen für eine differentielle Wirkung von Cannabinoiden zwischen den Geschlechtern erstellt.

 

Ergebnisse

A) Risiken des Cannabiskonsums zum Freizeitgebrauch

Kognition: Der Begriff „Kognition“ (vom lateinischen cognitio für „Erkenntnis“) ist ein Sammelbegriff für Prozesse und Strukturen, die sich auf die Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen beziehen. Dazu zählen u.a. Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Sprache, Denken und Problemlösen sowie Intelligenz. Akut konsumierte Cannabinoide (Cannabis-Zigaretten, THC, THC/CBD) können zu vielfältigen kognitiven Beeinträchtigungen führen. Eindeutige Einschränkungen finden sich in der Gedächtnisleistung, der Aufmerksamkeit und der Psychomotorik. Die Studienlage zeigt inkonsistente Beeinträchtigungen der Exekutivfunktionen (höhere, übergeordnete kognitive Leistungen des Menschen, die Steuerungs- oder Leitungsfunktionen beinhalten) – außer für Inhibition -, der Entscheidungsfindung sowie der Gehirnfunktion beim Lösen kognitiver Aufgaben. Regelmäßiger und häufiger Cannabiskonsum führt ebenfalls zu globalen Defiziten der Kognition, insbesondere der Gedächtnisleistung, wobei das Bild dieser Einschränkungen nicht so einheitlich wie bei den Akut-Effekten von Cannabis ist. Eine geminderte Intelligenz im Zusammenhang mit regelmäßigem Cannabiskonsum konnte nicht konsistent belegt werden. Kognitive Funktionsdefizite durch chronischen Cannabiskonsum scheinen vorübergehend zu sein. Hinweise auf kognitive Einschränkungen, die auch noch nach längerer Abstinenz von Cannabis vorliegen (> 1 Monat) finden sich nur in Einzelstudien (z.B. bei Probanden mit frühem Konsumbeginn in der Adoleszenz). Chronischer Cannabiskonsum ist mit veränderten Aktivitätsmustern im Gehirn während kognitiver Beanspruchung assoziiert, die sowohl die Intensität als auch die regionale Verteilung der Aktivierung betreffen. Diese veränderte neuronale Aktivität könnte eine Kompensation von beeinträchtigten neuronalen Prozessen darstellen. Die Datenlage zur Beurteilung geschlechtsspezifischer Unterschiede ist mangelhaft, Einzelstudien weisen auf differentielle Auswirkungen von Cannabis bei Frauen auf die Kognition hin. Ein Einfluss des Einstiegsalters für den Cannabiskonsum auf langfristige Kognitionsstörungen konnte nicht abschließend geklärt werden; es besteht deshalb deutlicher Bedarf an Längsschnitt-Studien und einer Kontrolle des Alterseffekts in diesen Studien. Eine international gültige, standardisierte Erfassung von wichtigen Variablen des Cannabiskonsums (insbesondere von THC- und CBD-Anteilen im konsumierten Cannabis, Darreichungsform, Plasmakonzentrationen, Einstiegsalter, Abstinenzdauer und Konsumstärke/-dauer) ist dringend notwendig, um die Vergleichbarkeit der Studien und ihrer Ergebnisse zu verbessern.

Evidenzlage: 10 Systematische Reviews zu kognitiven und hirnfunktionellen Veränderungen mit mehr als 100 Einzelstudien (Fall-Kontroll-Studien, selten Longitudinalstudien) von meist moderater bis niedriger Studienqualität und > 10.000 untersuchten Personen; 4 prospektive Kohortenstudien zur Intelligenz von sehr guter bis guter Studienqualität und 6300 untersuchten Personen. 

 

Organische Folgen:

Lungengesundheit: Cannabis bewirkt akut eine Erhöhung der Atemwegsleitfähigkeit und des forcierten Ausatmungs-Sekundenvolumens. Chronischer Cannabiskonsum erhöht das Risiko für respiratorische Symptome (Husten, keuchender Atem, Sputum Produktion, Engegefühle in der Brust). Kardiovaskuläre Risiken: Akute Cannabis-Effekte umfassen meist Erweiterung der Blutgefäße, Bluthochdruck und beschleunigten Puls. Eine Risikobewertung der kardiovaskulären Effekte im Zusammenhang mit chronischem Cannabiskonsum (z.B. ischämische Infarkte, Myokardinfarkte, weitere Infarkte (z.B. Niere), Thromboangiitis obliterans (segmentale Gefäßerkrankung), sowie Vorhofflimmern) kann aufgrund der vorliegenden Evidenz nicht erfolgen. Krebserkrankungen: Die aktuelle Evidenz weist eher auf keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und Krebserkrankungen des Kopf- und Halsbereichs sowie der Lunge hin, insbesondere wenn in den Studien auch die schädlichen Effekte von gleichzeitig konsumiertem Tabak oder Alkohol berücksichtigt wurden. Bezüglich des Hodenkrebsrisikos zeigt sich ein signifikanter Zusammenhang mit Cannabis, insbesondere für Nicht-Seminome (Mischtumore). Für andere Krebserkrankungen können anhand der aktuellen Datenlage keine Schlussfolgerungen getroffen werden. Hirnstrukturelle Veränderungen: Chronischer Cannabiskonsum steht im Zusammenhang mit strukturellen Veränderungen in Gehirnregionen, welche eine hohe Dichte an CB1 Rezeptoren aufweisen (insbesondere Amygdala und Hippocampus, Strukturen verantwortlich für die Gedächtnisbildung). Gezeigt wurden vor allem Veränderungen von Volumen und Form sowie Dichte der grauen Substanz. Die strukturellen Veränderungen stehen möglicherweise in direktem Zusammenhang mit der THC:CBD Ratio der konsumierten Cannabispräparate. Auswirkungen des Konsums während der Schwangerschaft: Die Studienlage bezüglich eines erhöhten Risikos für eine Anämie der Mutter ist inkonsistent. Hinweise für Entwicklungsstörungen des Fötus (verringertes Geburtsgewicht und erhöhte Notwendigkeit für intensivmedizinische Behandlung) sind konsistenter, bei besserer Studienlage. Zudem gibt es einzelne Hinweise für Störungen der Kindesentwicklung im Bereich visuelle kognitive Fähigkeiten, Aufmerksamkeit und erhöhtem Cannabiskonsum im Jugendalter. Mortalität: Ob Cannabiskonsum einen Einfluss auf die Gesamtmortalität hat, wird in den Studien nicht einheitlich beantwortet und eine direkte Schlussfolgerung ist nicht möglich. Bezüglich erhöhter Suizidalität zeigte sich in 3 von 4 Studien ein leichter Zusammenhang mit Cannabiskonsum. Geschlechtsunterschiede sowie spezifische Alterseffekte sind kaum untersucht und sollten in zukünftigen Studien berücksichtigt werden.

Evidenzlage: 18 Systematische Reviews und Meta-Analysen von unterschiedlicher Studienqualität zu somatischen Auswirkungen des Cannabiskonsums (3 Studien für Lungengesundheit, 5 für kardiovaskuläre Effekte, 4 für Krebserkrankungen, 3 für hirnstrukturelle Veränderungen, 4 für Auswirkungen des Konsums während der Schwangerschaft und 1 für Mortalität). Mit mehr als 400 Einzelstudien (meist Fall-Kontroll-Studien, Kohortenstudien, Fallberichte) und > 700.000 untersuchte Personen. 

 

Fahrsicherheit:

Durch akuten Cannabiskonsum erhöht sich das Verkehrsunfallrisiko (Faktor 1,25 bis 2,66). Unklar ist, für welche Unfallformen (z.B. einen Verkehrsunfall mit/ohne Todesfolge, reiner Sachschaden) Cannabiskonsumenten ein signifikant höheres Risiko haben können. Gleichzeitiger Konsum von Cannabis mit Alkohol scheint die Verkehrssicherheit stärker zu beeinträchtigen als reiner Cannabiskonsum. Obwohl Einzelstudien heterogene Befunde zum Verkehrsunfallrisiko im Zusammenhang mit Cannabis liefern, sind meta-analytische Daten konsistent und von guter methodischer Qualität.

Evidenzlage: 3 Systematische Reviews von hoher bis akzeptabler Studienqualität zum Verkehrsunfallrisiko mit mehr als 27 Einzelstudien (Fall-Kontroll-, epidemiologische und Kohortenstudien) und > 100.000 untersuchten Personen; keine aggregierte Evidenz zum Fahrverhalten unter Cannabisintoxikation. 

 

Psychosoziale Folgen:

Früher Beginn (< 15. Lebensjahr) und häufiger Cannabiskonsum in der frühen Adoleszenz sind mit geringerem Bildungserfolg assoziiert. Beeinträchtigungen im Bildungserfolg scheinen linear, negativ mit dem Alter des regelmäßigen Konsumbeginns zusammenzuhängen. Geringerer Bildungserfolg betraf höhere Schulabbruchraten, geringere Beteiligung an universitärer Ausbildung und weniger akademische Abschlüsse. Inkonsistente und zu wenige empirische Daten liegen bezüglich Cannabis-assoziierter Auffälligkeiten im Sozialverhalten, der Straffälligkeit sowie der familiären, beruflichen und wirtschaftlichen Entwicklung vor. Geschlechtsspezifische Effekte wurden nicht untersucht.

Evidenzlage: 3 Systematische Reviews davon 2 zum schulischen Bildungserfolg und 1 zu psychosozialen Folgen generell mit insgesamt 70 Einzelstudien (hauptsächlich populationsbasierte, prospektive Longitudinalstudien, seltener Fall-Kontroll-Studien) von variabler Studienqualität und > 100.000 untersuchten Personen.

 

Affektive Störungen, Angststörungen und Suizidalität:

Cannabiskonsum und Cannabisabhängigkeit erhöhen das Risiko für Angststörungen leicht (Faktor 1,3 bzw. 1,7). Nicht alle Einzelstudien belegen diesen Befund. Früher Konsumbeginn (< 16 Jahre), langjähriger, wöchentlicher Cannabisgebrauch und aktuelle Cannabisabhängigkeit erhöhen das Risiko für Angststörungen (Faktor 3,2) (Ergebnisse einer Längsschnittstudie). Das Risiko für Depressivität erhöht sich durch Cannabiskonsum leicht, in Abhängigkeit von der Intensität des Konsums (Faktor 1,3 bis 1,6). Dieser Befund zeigte sich auch in einer Studie bei Jugendlichen (12-18 Jahre alt). Das Risiko für Suizidgedanken wird durch Cannabiskonsum geringfügig erhöht. Nicht in allen Einzelstudien zeigt sich dieser Befund. Ein Neuauftreten bipolarer (d.h. manisch-depressiver) Symptome wird durch Cannabiskonsum um den Faktor 3 erhöht. Die Inzidenz von bipolaren Störungen durch Cannabiskonsum erhöht sich um den Faktor 1,4 (bei wöchentlichem Konsum) bzw. 2,5 (bei nahezu täglichem Konsum). Bei bereits bestehender bipolarer Störung erhöht Cannabiskonsum das Risiko für ein Wiederauftreten von manischen Symptomen oder Episoden. Alters- und geschlechtsspezifische Effekte wurden insgesamt selten untersucht.

Evidenzlage: Für Angststörungen lagen 2 Übersichtsartikel, 4 Longitudinal- und 1 Querschnittstudie mit ca. 60.000 untersuchten Personen vor, für Depression/Suizidalität lagen 3 Übersichtsarbeiten und 4 Longitudinalstudien mit > 140.000 untersuchten Personen vor, für bipolare Störungen lagen 1 Übersichtsarbeit und 3 Longitudinalstudien mit ca. 50.000 untersuchten Personen vor; alle Arbeiten von akzeptabler bis hoher Studienqualität.

 

Psychotische Störungen:

Cannabiskonsum kann das Risiko für psychotische Störungen (z.B. Wahnvorstellungen, Halluzinationen und Wahrnehmungsstörungen) erhöhen. Große Meta-Analysen zeigten, dass bei gelegentlichem Cannabiskonsum die Häufigkeit des Auftretens psychotischer Störungen um das 1,4 bis 2,0 fache, bei hoher Konsumintensität um das 2,0 bis 3,4-fache erhöht ist. Der Zeitpunkt der Ersterkrankung verlagert sich gegenüber nicht-konsumierenden durchschnittlich um 2,7 Jahre vor. Cannabisgebrauch ist mit ungünstigen Verläufen der psychotischen Störungen (Rückfallquote, Verweildauer, stärkere Ausprägung der Positivsymptomatik) assoziiert.

Evidenzlage: Zum Thema „Cannabis und Psychose“ lagen 26 systematische Reviews vor. In 14 Übersichtsarbeiten wurden auch Meta-Analysen durchgeführt. Der Umfang der Gesamtstichproben lag in sechs Reviews zwischen 10.000 und 11.3802 Personen, in 11 Reviews zwischen 1.000 und 10.000 Personen und in 4 Reviews zwischen 500 und 1.000 Personen. Fünf Arbeiten nannten keine Stichprobengröße. Alle Arbeiten sind von akzeptabler bis hoher Studienqualität. 

 

Cannabismissbrauch und Abhängigkeit:

Cannabis ist die in den Ländern Europas am häufigsten konsumierte illegale Substanz. Etwa 26,3% der Bürger der Europäischen Union (15 bis 64 Jahre alt) haben in ihrem Leben Erfahrung mit Cannabis gemacht (rund 87,7 Millionen Menschen). In den letzten 12 Monaten haben 7,0% Cannabis gebraucht (23,5 Millionen Menschen). Dieser Anteil ist in der Gruppe der jungen Erwachsenen (15 bis 34 Jahre alt) etwa doppelt so groß und liegt bei 13,9% (rund 17,1 Millionen Menschen). In Deutschland haben 6,1% der Bevölkerung (18- bis 64-Jährige) in den letzten 12 Monaten Cannabis konsumiert. In der Gruppe der jungen Erwachsenen (15 bis 34 Jahre alt) lag der Anteil bei 13,3%. Cannabiskonsum kann zu einem Abhängigkeitssyndrom führen, das u.a. auch Toleranzentwicklung und Entzugssymptome einschließt. In Deutschland geht man davon aus, dass bei 1% der 18-64-jährigen Bevölkerung eine cannabisbezogene Störung (d.h. Cannabismissbrauch: 0,5% und Cannabisabhängigkeit: 0,5%) vorliegt. In Europa ist die Zahl der Personen, die erstmals eine Suchtbehandlung wegen cannabisassoziierten Problemen beginnen, von 43.000 im Jahr 2006 auf 76.000 im Jahr 2015 angestiegen. Cannabiskonsumenten stellen inzwischen bei den erstmals wegen illegalen Substanzkonsums behandelten Personen die größte Gruppe dar. Diese Entwicklung zeigt sich auch in Deutschland. Für die Zunahme der Behandlungszahlen, die sich überproportional zu den Cannabis- Konsumzahlen entwickelt, werden verschiedene Erklärungsansätze diskutiert. Dies sind beispielsweise eine veränderte Zunahme des Cannabiskonsums und der cannabisbedingten Probleme, eine veränderte Risikowahrnehmung, eine Zunahme des THC-Gehalts in Cannabisprodukten, eine veränderte Zuweisungspraxis oder erhöhte Verfügbarkeit von Behandlungseinrichtungen. Epidemiologische Studien schätzen, dass etwa 9% aller Personen, die jemals Cannabis konsumiert haben, eine cannabisbezogene Störung entwickeln. Der Anteil der Betroffen, bei denen die Krankheitssymptome innerhalb von einem Jahr ohne Behandlung nachlassen (Remission), wird auf 17,3% geschätzt. Besondere Risikofaktoren für die Entwicklung von cannabisbezogenen Störungen sind: Männliches Geschlecht, junges Alter bei Erstkonsum, Häufigkeit des Konsums, Co-Konsum mit Tabak. Die Rolle von primären psychischen Störungen als Risikofaktoren für eine Cannabisabhängigkeit ist nicht geklärt, da die Datenlage hierzu heterogen ist. Cannabisabhängigkeit ist nicht mit erhöhter Mortalität durch akute Intoxikation verbunden. Gesundheitliche Belastungen, die mit Cannabisabhängigkeit in Verbindung stehen, werden auf 2 Millionen „Disability-Adjusted Life Years (DALYs)“ (d.h. Anzahl verlorener Jahre aufgrund vorzeitigen Todes oder durch Beeinträchtigung des normalen, beschwerdefreien Lebens) beziffert und machen lediglich rund 0,08% der gesamten, globalen Gesundheitsbelastung aus. Insgesamt besteht weltweit ein großer Mangel an Prävalenzschätzungen (d.h. Einschätzung der Krankheitshäufigkeit) für cannabisbezogene Störungen. Die Studienlage ist veraltet und stellt somit eventuell kein adäquates Abbild der aktuellen Situation dar. Es besteht Forschungsbedarf um abschätzen zu können, ob sich aufgrund des erhöhten THC-Anteils und niedrigen CBD-Anteils in Cannabisprodukten die Krankheitslast durch cannabisbezogene Störungen verändert hat.

Evidenzlage: 4 methodisch gute Meta-Analysen aus der „Global Burden of Disease“ Study (2 davon schlossen 294 Studien ein, ansonsten keine Zahlen zu Studien oder Stichproben) und aktuelle Übersichtsarbeiten mit großer Fallzahl zum Thema „Cannabis und affektive Störungen bzw. Angststörungen“ vor. Insgesamt 6 Meta-Analysen / Systematische Reviews, 66 inkludierte Studien, >102.976 Teilnehmer (nicht alle Reviews bezifferten die Anzahl der Einzelstudien und Studienteilnehmer). Darüber hinaus 6 Kohortenstudien (> 60.000 Teilnehmer). 

 

Synthetische Cannabinoide

zeigen ähnliche psychotrope Effekte wie pflanzliche Cannabinoide. Sie verfügen gegenüber pflanzlichen Cannabinoiden über eine verstärkte pharmakologische Wirksamkeit an beiden Cannabinoid Rezeptoren, weshalb ihre Wirkung und Stärke teilweise schlecht vorhersagbar ist. Häufigste Symptome einer Intoxikation bzw. Überdosierung durch synthetische Cannabinoide sind beschleunigter Puls („Herzrasen“), Ruhelosigkeit und Übelkeit/ Erbrechen. Ein erhöhtes Psychose-Risiko liegt für vulnerable Personen mit psychiatrischen Vorerkrankungen vor. Der Konsum ist mit einem erhöhten Risiko einer notärztlich zu behandelnden Intoxikation verbunden, was aus Verlaufs- und Meldedaten der Drogenbehörden, Drogennotrufe und der Notfallberichte aus Krankenhäusern geschlossen wird. Schwere klinische Symptome (z.B. Infarkt, Nierenversagen, epileptischer Grand-Mal-Anfall, Psychose) sind eher selten, aber keine Einzelfälle. International wurden bislang 32 Todesfälle im Zusammenhang mit synthetischen Cannabinoiden registriert. Die Grauziffer dürfte jedoch deutlich höher liegen, da es keine standardisierte Toxikologie zu Synthetischen Cannabinoiden gibt. Die Datenlage basiert weitestgehend auf notfallmedizinischen Fallberichten und -serien sowie behördlichen Meldedaten.

Evidenzlage: 7 Systematische Reviews mit unterschiedlicher methodischer Qualität, wobei 5 eine hohe bis akzeptable Studienqualität vorweisen, mehr als 100 Einzelfallberichte und > 30 Fallserien an > 5000 Personen zu akuten SC-Intoxikationen, die beim Drogennotruf oder in der notärztlichen Versorgung registriert wurden. 

 

B) Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln 

Chronische Schmerzen:

Die Wirksamkeit von Cannabisarzneimitteln bei chronischen Schmerzen wurde häufig untersucht. Die Therapie war meistens von kurzer Dauer (< = 12 Wochen, teilweise nur einige Tage). Cannabisarzneimittel wurden gemeinsam mit etablierten, zugelassenen Schmerzmitteln (Analgetika) verabreicht. Sie wurden in der Regel gegenüber Placebo getestet und selten gegenüber etablierten Analgetika. Cannabisarzneimittel waren Placebo teilweise in der Schmerzreduktion (um mindestens 30%) überlegen. Für eine substantielle Schmerzreduktion (um mindestens 50%) liegt derzeit keine Evidenz vor. Alle Übersichtsarbeiten finden weitere, sekundäre Wirksamkeitsbelege zugunsten der Cannabisarzneimittel (z.B. eine Reduktion der durchschnittlichen Schmerzintensität, einer größeren durchschnittlichen Schmerzreduktion“ oder einer „starken oder sehr starken globalen Verbesserung“). Dabei werden selten große Effekte beschrieben. Nabiximols – eine als Arzneistoff verwendete standardisierte Extraktmischung aus THC und CBD, die aus den Blättern und Blüten der Cannabispflanze gewonnen wird – ist bei chronischen Schmerzen die am besten untersuchte Cannabisarznei. Die Evidenz für eine leichte Schmerzreduktion und Verbesserungen in Sekundärmaßen im Vergleich zum Placebo ist gut. Für THC und Nabilon liegen einzelne Hinweise für positive Effekte im Vergleich zum Placebo vor. Nebenwirkungen traten, mit Ausnahme der Studien zu chronischen Schmerzen bei Krebs, konsistent häufiger unter der Behandlung mit Cannabisarzneimitteln auf als unter Placebo-Gabe. Die hauptsächlich zentralnervösen Nebenwirkungen sind zumeist leicht bis mittel. Schwerwiegende Nebenwirkungen sind bei Cannabisarzneimittel- Gabe selten und nicht häufiger als bei Placebo-Gabe. Die Datenlage zu Behandlungsabbrüchen ist inkonsistent. Eine große Meta-Analyse findet mehr Abbrüche bei Cannabisarzneimitteln als bei Placebo-Behandlung. 3 Reviews mit kleiner Fallzahl finden keine Unterschiede, 4 machen hierzu keine Aussagen.

Evidenzlage: 8 methodisch sehr gute systematische Übersichtsarbeiten zum Einsatz von Cannabisarzneimitteln bei chronischen Schmerzen; neuropathische Schmerzen: 3 Systematische Reviews mit insgesamt > 15 RCTs und > 1619 untersuchten Patientinnen und Patienten; chronische Schmerzen bei Krebs: 3 Systematische Reviews mit insgesamt > 2 RCTs und > 517 untersuchten Patientinnen und Patienten; rheumatische Schmerzen: 1 Systematisches Reviews mit 4 RCTs und 159 untersuchten Patientinnen und Patienten; chronische Schmerzen bei MS: 6 Systematische Reviews mit insgesamt 3 RCTs und 565 untersuchten Patientinnen und Patienten. 

 

Spastizität:

Für Cannabisarzneimittel (Nabiximols, Dronabinol, Medizinalhanf, orales und oromukosales THC und THC/CBD) konnte die Wirksamkeit bei Multipler Sklerose- und Paraplegie-assoziierter (Rückenmarksverletzungen) Spastizität mit objektivierbaren Prüfkriterien nicht belegt werden. Inkonsistente Belege liegen für eine subjektiv empfundene Wirkung von Cannabisarzneimitteln in der genannten Indikation vor. Vielfältige Zielparameter und eingesetzte Messinstrumente tragen zur Datenheterogenität bei. Eine heterogene Datenlage existiert bezüglich der Therapiedauer: Belege für die Wirksamkeit von Nabiximols bei kurzfristiger Applikation (2-6 Wochen) liegen vor. Wirksamkeitsbelege fehlen sowohl für Nabiximols als auch für oral angewendete Cannabisarzneimittel bei mittelfristiger Anwendung über 12-14 Wochen. Eine Studie berichtet eine signifikante Wirksamkeit von oralen Cannabisarzneimitteln im Rahmen einer Langzeittherapie (1 Jahr). Für den Nachweis der Wirksamkeit von inhaliertem Cannabis besteht bisher keine ausreichende Studienlage. Verträglichkeit: Unter Behandlung mit Cannabisarznei wurden signifikant mehr Nebenwirkungen als unter Placebo berichtet. Beschwerden: Störungen des Gastrointestinaltraktes, zentralnervöse Störungen (Sedierung und Schwindel) und des muskuloskeletalen Systems. Psychische Störungen (z.B. psychotische Symptome) waren selten. Sicherheit: Schwere Nebenwirkungen wurden nur in Einzelfällen berichtet.

Evidenzlage: 2 systematische Übersichtsarbeiten, eine davon methodisch sehr gut mit 21 eingeschlossenen RCTs und 5371 untersuchten Patientinnen und Patienten. Die andere Arbeit hatte ein hohes Bias-Risiko, schloss 17 Einzelstudien mit unterschiedlichem Studiendesign ein.

 

Übelkeit und Erbrechen:

Zur antiemetischen Wirkung von Cannabisarznei bei chemotherapeutisch-induzierter Übelkeit und Erbrechen liegen viele alte Studien mit schlechter oder unklarer methodischer Qualität vor und keine (mit Ausnahme einer RCT) mit Antiemetika (d.h. Medikamente, die Übelkeit und Brechreiz unterdrücken sollen) der neuen Generation (5-HT3- oder NK1-Antagonisten) oder Neuroleptika als Vergleichsmedikation. Aus diesen methodisch unzureichenden Studien ergibt sich für die Cannabisarzneimittel (Dronabinol, Nabilon, Levonantradol, Nabiximols) eine signifikant bessere antiemetische Wirkung im Vergleich zu Placebo sowie gegenüber konventionellen Antiemetika. Die Wirksamkeit scheint vergleichbar mit der von Ondansetron (1 neuere RCT). Bei HIV/AIDS-Erkrankungen können 4 von 5 Studien eine leicht gewichtsstimulierende Wirkung von Cannabisarzneimitteln (Dronabinol, Cannabiszigaretten) feststellen. In einer der Studien zeigt sich eine signifikante Überlegenheit gegenüber Placebo. Bei palliativ-behandelten Krebs- und HIV/AIDS-Erkrankten können Einzelstudien eine leichte, aber gegenüber Placebogabe nicht signifikante Steigerung des Appetits sowie eine Verbesserung von Übelkeit und Erbrechen durch Cannabisarzneimittel (Dronabinol, Cannabiszigaretten) feststellen. Nebenwirkungen treten bei der Behandlung mit Cannabisarzneimitteln gegenüber Placebo signifikant häufiger auf, sind aber zumeist transient und nicht gravierend. Schwere Nebenwirkungen und Studienabbrüche aufgrund einer medikamentösen Unverträglichkeit treten bei der Untersuchung aller klinischen Anwendungsgebiete für Cannabisarzneimittel auf. Teilweise liegen sie signifikant häufiger in den Interventions- als in den Kontrollgruppen vor.

Evidenzlage: 10 Systematische Reviews, von denen durch inhaltliche Überschneidungen 3 Arbeiten analysiert wurden, mit 43 RCTs (> 2000 Patientinnen und Patienten) zum medizinischen Einsatz von Cannabinoiden bei Übelkeit und Erbrechen bei Chemotherapie, 6 RCTs (295 Patientinnen und Patienten) zur Appetit- und Gewichtstimulation bei HIV sowie 7 RCTs (649 Patientinnen und Patienten) zur palliativen Versorgung; methodische Qualität der Übersichtsarbeiten hoch bis moderat. 

 

Gastrointestinale, neuroinflammatorische, neurodegenerative und neurologische Erkrankungen:

Gastrointestinale Störungen: Bei Morbus Crohn und Reizdarmsyndrom konnte keine Verbesserung der primärem Beschwerden durch Cannabisarzneimittel (Cannabiszigaretten, Dronabinol) gezeigt werden (2 RCTs). Eine Studie berichtet eine Besserung der Morbus Crohn-Symptome sowie der Lebensqualität. Neurodegenerative, neuroinflammatorische und andere neurologische Erkrankungen: Tremor und Blasenschwäche bei Multipler Sklerose können im Placebo-kontrollierten Vergleich meist nicht verbessert mit Cannabisarzneimitteln (Nabiximols, orale Cannabinoide) therapiert werden. Eine Studie mit Nabiximols zeigt mögliche Therapieerfolge auf spezifische Symptome der Blasenfunktion. Chorea Huntington: In drei vorliegenden Studien war keine signifikante Wirksamkeit von Cannabisarzneimitteln (Nabilon, Nabiximols) nachweisbar. Epilepsie: Die Behandlung mit Cannabidiol erbringt eine teilweise verbesserte Symptomatik bei therapieresistenten Epilepsie-Formen (3 ältere Studien), die Befunde sind jedoch heterogen. Dystonie (unwillkürlichen Muskelkontraktionen): Es zeigt sich keine Verbesserung der Symptomatik nach 3-wöchiger Behandlung mit Cannabisarzneimitteln (Dronabinol, Nabilon) bei primär zervikaler Dystonie. Morbus Parkinson: 3 von 4 Studien finden keine Verbesserung der Parkinson- Symptomatik oder der Levo-Dopa-induzierten Bewegungsstörungen/Dyskinesien bei begleitender Therapie mit Cannabisarzneimitteln (CBD, THC/CBD, Nabilon, SR141716). Eine RCT berichtet verringerte Dyskinesien unter Nabilon. Einzelbefunde zeigen spezifische Symptombesserungen (REM-Schlafstörungen, psychotische Störungen, subjektives Empfinden). Glaukom: Eine RCT kann bei 6 Patientinnen und Patienten mit erhöhtem Augendruck akut nach THC-Gabe eine signifikante Reduktion des Augeninnendruckes feststellen. Bei höherer Dosierung von CBD zeigte sich ein Anstieg des Augeninnendrucks. Es liegen keine Daten zu längerer Therapiedauer (> 1 Woche) vor. Die Verträglichkeit der Cannabisarzneimittel ist in den hier untersuchten Studien gut. Beim therapeutischen Einsatz bei Chorea Huntington und Epilepsien zeigt sich kein signifikanter Unterschied zum Nebenwirkungsrisiko bei Placebos. Ansonsten treten Nebenwirkungen bei der Behandlung mit Cannabisarzneimitteln gegenüber Placebo etwas häufiger auf, sind aber zumeist transient und nicht gravierend. Untersuchungen zur Geschlechts- und Altersspezifität der Wirksamkeit und Verträglichkeit liegen bisher nicht vor.

Evidenzlage: Gastrointestinale Störungen: Ein Systematisches Review (1 RCT) und insgesamt zwei RCTs (58 Patientinnen und Patienten). Neurodegenerative, neuroinflammatorische und andere neurologische Störungen: 3 Systematisch Reviews mit 8 RCTs (2254 Patientinnen und Patienten) für MS, 1 Systematisches Review mit 3 RCTs (> 62 Patientinnen und Patienten) für Chorea Huntington, 1 Systematisches Review mit 3 RCTs (48 Patientinnen und Patienten) für therapieresistente Epilepsie, 1 Systematisches Review mit 4 RCTs, 2 Fallserien und 2 Beobachtungsstudien (100 Patientinnen und Patienten) zu Morbus Parkinson. Glaukom: 1 Systematisches Review mit 1 RCT (6 Patienten). 

 

Psychische Erkrankungen:

Erst in jüngster Zeit wurden Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln in der Behandlung von psychischen Störungen in RCTs getestet. Es liegen einzelne randomisiert-kontrollierte Studien zur folgenden Indikationen vor: Demenz, Cannabisabhängigkeit, Opiatabhängigkeit, Schizophrenie und schizophrenieforme Psychosen, Soziale Phobie, Posttraumatische Belastungsstörungen, Anorexia Nervosa, Tourette Syndrom. Die Stichprobengrößen sind stets gering. Aufgrund der begrenzten Datenlage können noch keine Aussagen zur Wirksamkeit von Cannabisarzneimitteln (Dronabinol, Nabiximols, Nabilon, THC) und Cannabinoid-Modulatoren auf die psychopathologische Symptomatik bei Menschen mit psychischen Störungen getroffen werden. Die vorliegenden Studien belegen, dass Nebenwirkungen bei der Cannabinoid-Gabe auftreten können, Hinweise auf schwere Nebenwirkungen jedoch nicht vorliegen. Allerdings ist die Datenmenge unzureichend, um eine verlässliche Aussage zur Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabisarzneimitteln in diesen Indikationen zu ermöglichen.

Evidenzlage: 4 Systematische Übersichtsartikel zum medizinischen Einsatz von Cannabinoiden bei diversen psychischen Störungen, 2 Übersichtsarbeiten mit niedriger, 2 mit hoher Studienqualität; insgesamt 22 berücksichtigte RCTs mit 1312 untersuchten Patientinnen und Patienten.

 

Selbstmedikation:

Bislang liegt keine methodisch hochwertige Studie vor, die sich explizit mit der Erforschung der „Selbstmedikationshypothese“ durch Cannabis befasste. Die vorliegenden Publikationen untersuchten meist Motive für Cannabiskonsum von Menschen mit Psychose / Schizophrenie. Soziale Gründe oder Langeweile waren häufige Konsummotive bei psychotischen Patientinnen und Patienten. Eine Bewältigung von negativem Befinden (d.h. schlechte Stimmung, Ängstlichkeit, Depression) wurde von einer Teilgruppe genannt, die Milderung von „Nebenwirkungen der Medikation“ oder „Positivsymptomen der Psychose“ eher selten. Insgesamt sind die Studien, ihre verwendete Methodik, untersuchte Klientel und Befundlage sehr heterogen. Die Evidenz aktuell verfügbarer Forschungsarbeiten ist nicht ausreichend, um empirisch geprüfte Aussage über die Selbstmedikationshypothese des Cannabiskonsums psychisch erkrankter Personen zu treffen.

Evidenzlage: 2 Systematische Reviews mit geringer methodischer Studienqualität über 6 und 12 Einzelstudien. 760 Studienteilnehmern; zusätzlich 11 Einzelstudien (4 Longitudinal-, 4 Fall-Kontroll-Studien, 3 Fallberichte) mit akzeptabler bis hoher methodischer Qualität und insgesamt knapp 70.000 untersuchten Personen. 

 

Ergebnisse und Schlussfolgerung

Im Rahmen dieser Expertise fand eine systematische Sichtung von über 2.100 wissenschaftlichen Publikationen statt, die aus 5 internationalen Datenbanken mit über 27 Millionen Einzelpublikationen ausgewählt wurden. Auf den neuesten Erkenntnissen der Grundlagenforschung zum menschlichen Endocannabinoid-System basierend, liefert diese Expertise einen sehr umfassenden Datenabgleich des aktuellen Kenntnisstandes zur Wirkung von Cannabisarzneimitteln. Ein differenziertes und gleichzeitig detailreiches Bild unterschiedlich ausgeprägter Risiken des Gebrauchs pflanzlicher und synthetischer Cannabinoide im Bereich der Somatik, Kognition, Abhängigkeitsentwicklung, psychischer Störungen (Angststörungen, Depressionen und Suizidalität, bipolare Störungen, Psychosen) sowie der sozialen Folgen (z.B. Bildungschancen, Fahrtüchtigkeit) wird aufgezeigt. Als besondere Risikofaktoren wurden u.a. der frühe Cannabiskonsumbeginn in der Adoleszenz, intensive Gebrauchsmuster sowie Co-Konsum von Tabak, identifiziert. International bestehende Datenlücken wurden aufgezeigt, wie zum Beispiel im Bereich der Abhängigkeitsentwicklung und psychosozialen Folgen. Methodisch belastbare Daten werden dringend gefordert, insbesondere auch um das Gefährdungspotential durch hochpotente Cannabinoide besser abschätzen zu können. Hervorgehoben werden sollen darüber hinaus auch die Risiken der synthetischen Cannabinoide. Durch ihre potenzierte pharmakologische Wirksamkeit können starke und unvorhersehbare Effekte auftreten, die zu intensivmedizinischer Versorgung und Todesfällen geführt haben. Zusammenfassend belegen die evidenzbasierten Fakten ein erhöhtes Risiko für negative psychische, organische und soziale Konsequenzen im Zusammenhang mit dem Freizeitgebrauch von Cannabis. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit geeigneter Maßnahmen zur Aufklärung, Prävention und Risikominimierung und insbesondere zum Schutz von Jugendlichen. Die evidenzbasierten Fakten können auch die gesellschaftliche Diskussion um die juristische Bewertung der Substanz Cannabis bereichern. Im Bereich der medizinischen Anwendung von pflanzlichen, synthetischen und teilsynthetischen Cannabinoiden wurde ein Nutzen bei der Indikation „Übelkeit und Erbrechen bzw. Appetitstimulation“ bei Menschen mit chemotherapeutisch behandelter Krebserkrankung und HIV/AIDS gefunden. Bei „chronischen Schmerzen“ liegen überwiegend Belege für eine leichte Schmerzreduktion und verschiedene Verbesserungen in Sekundärmaßen im Vergleich zum Placebo vor. Cannabisarzneimittel wurden in der Regel in Kombination mit Analgetika verabreicht. Die Daten sprechen derzeit eher nicht für eine substantielle Reduktion der Symptomatik. Bei „Spastizität bei Multipler Sklerose und Paraplegie“ liegen ebenfalls „subjektive“, jedoch nicht ausreichend objektivierbare Hinweise für eine Besserung der Symptomatik vor. Inkonsistente Ergebnisse bei meist unzureichender Studienlage liegen im Bereich der gastrointestinalen, neuroinflammatorischen, neurologischen und psychischen Erkrankungen vor. Hinsichtlich der Verträglichkeit und Sicherheit der Cannabisarzneimittel zeigt die Studienlage klar, dass Nebenwirkungen der Cannabisarzneimittel durchaus gehäuft auftreten können, meist aber transient und nicht schwerwiegend sind. Die Befunde zum medizinischen Einsatz von Cannabis lassen aufgrund von fehlender Evidenz derzeit keine Aussagen über vielfältige Indikationsstellungen zu, die fortlaufend zu überprüfen sind. Die international intensivierte Erforschung des Endocannabinoid-Systems und des therapeutischen Potentials von Cannabisarzneimitteln in jüngster Zeit wird zu einer verbesserten Datenlage beitragen können. Erkenntnisse über ihre Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit im kontrollierten Vergleich mit aktiver Vergleichsmedikation („first-line“ Arzneimittel) wären besonders hilfreich.

 

Fortführung 

Das Volumen und die Komplexität der medizinisch-wissenschaftlichen Informationen steigen kontinuierlich an. Die vorgelegte Arbeit trägt maßgeblich dazu bei, die Studienlage zum Potential und den Risiken von Cannabis der letzten 10 Jahre zusammenzufassen und darzustellen. Sie liefert evidenzbasierte Erkenntnisse für den Bereich der Prävention und Behandlung von Menschen mit cannabisbezogenen Störungen wie auch den Einsatz von Cannabisarzneimitteln in der medizinischen Versorgung. Die aufgearbeitete Evidenz kann die Grundlage für die Entwicklung von Behandlungsempfehlungen zum Einsatz von Cannabisarzneimitteln bei unterschiedlichsten Indikationen darstellen. Die Ausarbeitung der Empfehlungen fällt in den Zuständigkeitsbereit der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlich medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) und sollte auch Patientinnen und Patienten, deren Angehörige und Vertreter des Gesundheitssystems einschließen. Die aufgearbeitete Evidenz kann ebenfalls die Grundlage für die Entwicklung von Behandlungsleitlinien im Bereich der cannabisbezogenen Störungen bilden. Sie liefert eine präzise Beschreibung der Risikogruppen für Cannabismissbrauch und – abhängigkeit. Die Ergebnisse der Expertise sollen Entscheidungsträgern in den Bereichen Medizin, Gesundheit, Sozialwesen, Politik, Justiz wie auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

 

Umsetzung der Ergebnisse durch das BMG 

Mit der Erhebung ist durch eine objektive, valide und an der besten wissenschaftlichen Evidenz orientierte Bewertung der in den letzten zehn Jahren publizierten Literaturdaten eine Analyse erfolgt, wodurch das Potential von Cannabis als Arzneimittel wie auch der Risiken im Freizeitgebrauch adäquat eingeschätzt werden kann. Die gesamte Expertise wird als wissenschaftliches Buch im Springer Verlag veröffentlicht werden. Eine englische Übersetzung ist ebenfalls geplant, um die Ergebnisse auch auf breiter wissenschaftlicher Ebene zur Verfügung zu stellen. Die Studie liefert eine evidenzbasierte Grundlage für weitere Entscheidungen.

 

Verwendete Literatur 

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) – ständige Kommission Leitlinien. AWMF-Regelwerk „Leitlinien“. 1. Auflage. 2012. Verfügbar unter: http://www.awmf.org/leitlinien/awmf-regelwerk.html

Higgins JPT, Green S. 2015. Cochrane Handbook for Systematic Reviews of Interventions Version 5.1.0 [2011]. The Cochrane Collaboration. www.cochrane-handbook.org.

Lewin, S., Glenton, C., Munthe-Kaas, H., Carlsen, B., Colvin, C.J., Gulmezoglu, M., Noyes, J., Booth, A., Garside, R., Rashidian, A. (2015). Using qualitative evidence in decision making for health and social interventions: an approach to assess confidence in findings from qualitative evidence syntheses (GRADE-CERQual). PLoS Med 12, e1001895.

National Institute for Health and Clinical Excellence (2009). The guidelines manual. London: National Institute for Health and Clinical Excellence, 2009. Verfügbar unter: http://www.nice.org.uk/guidelinesmanual

OCEBM Levels of Evidence Working Group*. “The Oxford Levels of Evidence (2011)′′. Oxford Centre for Evidence-Based Medicine. Verfügbar unter: http://www.cebm.net/index.aspx?o=565 3

Scottish Intercollegiate Guidelines Network. SIGN 50. A guideline developer`s handbook. 2011. Verfügbar unter: http://www.sign.ac.uk/pdf/sign50.pdf

Whiting, P., Savović, J., Higgins, J.P.,Caldwell, D.M., Reeves, B.C., Shea, B., Davies, P., Kleijnen, J., Churchill, R., ROBIS group (2016).

ROBIS: A new tool to assess risk of bias in systematic reviews was developed. J Clin Epidemiol. ;69:225-34.

 

Studienregistrierung: 

http://www.crd.york.ac.uk/PROSPERO/display_record.asp?ID=CRD42016053592

http://www.crd.york.ac.uk/PROSPERO/display_record.asp?ID=CRD42016033249

 

Vollständige Expertise 

Hoch, E., Friemel, C.M., Schneider, M. (Hrsg.) (in press). Cannabis: Potential und Risiko. Ergebnisse einer wissenschaftlichen Analyse. Heidelberg. Springer.