Etwa neun Millionen Deutsche missbrauchen derzeit verschiedenste Arzneimittel – dazu kommen noch einmal knapp zwei Millionen, die bereits abhängig von „ihren“ Medikamenten sind. In Apotheken werden Zigtausende Präparate rezeptfrei verkauft, die gegen alle möglichen Beschwerden des Alltags helfen sollen. Aber muss man – wenn mal wieder die Nase läuft oder ein leichter Kopfschmerz auftritt – gleich zu pharmazeutischen Produkten aus der Apotheke greifen? Viele machen das, und so ist die Sucht nach (völlig legalen) Arzneimitteln in Deutschland heute viel verbreiteter, als es unsere Gesellschaft wahrhaben will.
Nach der Abhängigkeit von Nikotin ist die Abhängigkeit von Arzneimitteln längst klar auf Platz zwei – noch vor der „Volksdroge“ Alkohol. Und die Zahl der Betroffenen wächst – ebenso der Umsatz der daran kräftig verdienenden Pharmaindustrie. Letztere hat dementsprechend ein massives Interesse daran, möglichst viele ihrer Produkte in möglichst großen Mengen und zu möglichst hohen Preisen zu verkaufen. Viele Ärzte verschreiben heute stark abhängig machende Präparate viel zu schnell, manche erhalten sogar Provisionen für die Verordnung gewisser Arzneimittel. Ob das immer ganz im Interesse der Patienten liegt, darf bezweifelt werden. Dabei ist dieses Problem schon seit Jahrzehnten bekannt – aber so richtig scheint sich keiner dafür zu interessieren, von konkreten Lösungsansätzen mal ganz abgesehen. Aber warum ist das so? Warum wird nicht etwas gegen den massiven Medikamentenmissbrauch in Deutschland unternommen?
Statistisch betrachtet wirft jeder Deutsche täglich 1,5 Medikamente ein, bei über 60jährigen sind es sogar mehr als acht verschiedene Arzneimittel am Tag. Es gibt in Apotheken frei verkäufliche Pharmaprodukte wie Ibuprofen-Kaufgummis für Kleinkinder und zahllose andere Mittel gegen so ziemlich jede gesundheitliche Beschwerde. Am häufigsten gehen Schmerzmittel über den Tisch, aber oft ist es auch der Leistungsdruck unserer modernen Gesellschaft, der so manchen neuen Apothekenkunden hereintreibt: Man ist zu müde oder zu unkonzentriert für die Arbeit und fragt dann eben auch mal den Apotheker um Rat. Und der hat dann nicht nur einen „guten“ Rat, sondern auch gleich das passende Mittelchen im Angebot – bei über 55.000 frei verkäuflichen Arzneimitteln ist wirklich für jeden was dabei. Dazu kommen nochmal 48.000 rezeptpflichtige Präparate, die einem nur ein Arzt verschreiben kann. Darunter heftigste Opiate und Morphine, die wir hier aber nicht weiter betrachten (siehe dazu THCENE 4/19: Opium statt Cannabis – die deutsche Opioid-Krise).
Gerhard F. aus Berlin hat jahrelang Medikamente missbraucht. Alles begann für ihn in den 90er Jahren, als ihm sein damaliger Arzt Ibuprofen (eines der meistverkauften Schmerzmittel in Deutschland) gegen seine Bandscheiben-Schmerzen verschrieb: „Beim Arzt hieß es nur, da verschreiben wir Ibuprofen, das löst alle Probleme. Und da waren wir dann halt blauäugig – als es nicht mehr so doll wirkte, hab ich mir dann eben noch eine eingeworfen. Und irgendwann kam dann noch eine dazu und noch eine…“ Vor neun Jahren hatte Gerhard F. dann gleich zwei Herzinfarkte, die er nur knapp überlebte. Der jahrelange Missbrauch von Ibuprofen war einer der Gründe dafür. Das sagen ihm seine Ärzte heute. Gerhard F. glaubt und vertraut ihnen. Was soll er auch sonst machen? Seinem damaligen Arzt hat er auch geglaubt und vertraut.
Tatsächlich wissen wir heute, dass Ibuprofen bei weitem nicht so ungefährlich ist, wie man es lange Zeit angenommen hat. Konkret kann dieses so beliebte und verbreitete Schmerzmittel zu hohem Blutdruck führen, es kann die Nieren, das Herz und das Kreislaufsystem schädigen und zudem den Magen-Darm-Trakt massiv beeinträchtigen. Diese Gefahren werden von Ärzten und Apothekern heute immer noch stark unterschätzt. Aber auch Patienten unterschätzen oft die Gefahren vermeintlicher Heilmittel, wenn sie ihnen von Ärzten oder Apothekern empfohlen werden.
Dr. Jan-Peter Jansen vom Schmerzzentrum Berlin steht Schmerzmitteln wie Ibuprofen sehr kritisch gegenüber: „Die Patienten bzw. die Betroffenen denken, das sind harmlose Medikamente, weil man sie frei kaufen kann. Und als Schmerzmediziner sehe ich ja auch, dass viele Menschen lange Zeit bedenkenlos Medikamente einnehmen, die für sie gefährlich sind. Aber es gibt auch immer noch viele Ärzte, die solche Mittel über einen langen Zeitraum – über viele Jahre – verordnen und die Gefahr nicht erkennen. Denn wenn wir Mechanismen, die zum Selbstschutz des Körpers gehören, langfristig angreifen, dann bestehen hohe Risiken.“
Am Forschungsinstitut „Sozium“ der Uni Bremen hat einer der bekanntesten Arzneimittelforscher Deutschlands seine Professur: Prof. Gerd Glaeske. Der Pharmakologe beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Nutzen und den Nebenwirkungen von Arzneimitteln – er definiert den Unterschied zwischen Medikamentenmissbrauch und Medikamentenabhängigkeit so: „Missbrauch ist immer dann gegeben, wenn ich ein Medikament nicht bestimmungsgemäß nehme. Bestimmungsgemäß bedeutet, dass ich die Dosierung befolge, die auf dem Beipackzettel steht und dass ich das Mittel nicht über eine zu lange Zeit nehme. Wenn aber dieser Missbrauch plötzlich stattfindet, weil ich zu viel und zu häufig diese Arzneimittel einnehme, dann kann es bei ganz bestimmten Arzneimittelgruppen auch zu einer Abhängigkeit kommen. Das sind dann typischerweise Arzneimittelgruppen, die eine psychotrope Wirkung haben, das bedeutet, das sind Mittel, die auf die Psyche wirken, die euphorisierend wirken und glücklich machen.“
Die größte Risikogruppe für Medikamentenabhängigkeit sind nach Prof. Glaeske Frauen in den Wechseljahren, denn diese lassen sich besonders oft zweifelhafte Präparate gegen ihre vorübergehenden Beschwerden verschreiben, die dann später aber zu einer Abhängigkeit führen können. Vor allem Benzodiazepine (z. B. Valium) und Z-Substanzen (Schlafmittel wie Zopiclon) bergen die Gefahr einer Abhängigkeit von den „Mother’s Little Helpers” – nicht nur die Rolling Stones wussten, dass das manchmal ganz schnell gehen kann.
Ein ZDF-Team dokumentierte unlängst mit versteckter Kamera die Versuche eines eigentlich gesunden Patienten, an verschreibungspflichtige Schlafmittel zu gelangen. Zwei von drei Ärzten lehnten ab, der dritte füllte nach wenigen Minuten und ohne weitere Nachfragen oder Untersuchungen ein entsprechendes Rezept für das Schlafmittel Zopiclon aus und entließ den Patienten damit. Offensichtlich kann man mit etwas Geduld nach einigen Arztbesuchen durchaus den „Richtigen“ finden, der einem die gewünschten Medikamente direkt verschreibt. Das Fernsehteam interviewte auch eine Arzthelferin, die 20 Jahre in einer Arztpraxis arbeitete und daher ganz genau weiß, wie schnell oftmals Rezepte ausgestellt werden: „Unheimlich schnell – das hat damit zu tun, dass man die Zeit gar nicht hat. Alle zehn Minuten kommt ein Patient herein und in diesen zehn Minuten hat man einfach nicht die Zeit, ausführlicher darüber zu sprechen.“
Ein Allgemeinarzt bekommt für jeden Patienten eine Versichertenpauschale zwischen 13 und 17 Euro pro Quartal – egal, wie oft der Patient in der Praxis vorbeikommt, dieser Betrag erhöht sich nicht. Das Resultat ist, dass viele Patienten ihre Medikamente gleich quartalsweise erhalten und Nachfolge-Rezepte gibt es oft direkt an der Praxistheke – ohne dass der Arzt noch einmal konsultiert wird.
Eine aktuelle Studie belegt, dass sich deutsche Allgemeinmediziner im Schnitt 7,6 Minuten Zeit pro Patient nehmen. Und das am liebsten nur einmal im Quartal – die Rezepte für drei Monate kann sich der Patient dann direkt mitnehmen. Selbst die Bundesärztekammer musste unlängst im Zusammenhang mit verstärktem Arzneimittelmissbrauch zugeben: „Im Praxisalltag unter Zeitdruck kann es passieren, dass Patientinnen und Patienten nicht im wünschenswerten Maße von ihrer Ärztin/ihrem Arzt informiert werden.“ Allerdings sieht die Bundesärztekammer nicht ganz zu Unrecht auch manche Patienten in der Verantwortung, da „nicht nur Ärzte, sondern auch Patienten selbst oft auf die schnellere, bequemere ‚Lösung‘ ihrer Symptome durch Benzodiazepine / Z-Substanzen drängen.“
Aber wie gut ist ein Arzt, der solch einem Drängen seiner Patienten bedenkenlos nachgibt? Eigentlich sind Mediziner sogar rechtlich dazu verpflichtet, auf das Abhängigkeitspotenzial von Medikamenten hinzuweisen. Das sieht auch Dr. Rüdiger Holzbach, Chefarzt im Klinikum Arnsberg so – er warnt ausdrücklich vor abhängig machenden Arzneimitteln: „Die große Gefahr ist, dass der Körper sich an die Benzodiazepine, Z-Substanzen oder Opiate gewöhnt – die sind wie ein Fuß auf der Bremse und die Gewöhnung bedeutet, dass mit dem anderen Fuß auf dem Gaspedal gegengesteuert wird. Wenn die Präparate dann plötzlich abgesetzt werden, ist nur noch das Gaspedal am Anschlag und das bedeutet Unruhe, Schlafstörungen, Ängstlichkeit – und es veranlasst die betroffenen Personen, diese Mittel weiter zu nehmen.“
So kommen in extremen Fällen auch schon mal um die 50 Tabletten täglich zusammen – manche ohne Nebenwirkungen, manche mit leichten, manche mit schweren. Besonders unangenehme Nebenwirkungen werden oft mit weiteren Arzneimitteln behandelt, die ihrerseits auch wieder Nebenwirkungen mit sich bringen können. Ein Teufelskreis im Sinne der Pharmaindustrie. Vor allem, wenn sich der eigentlich austherapierte Patient in der Apotheke rezeptfreien Nachschub besorgt, da er glaubt, ohne die pharmazeutische Hilfe nicht mehr auszukommen.
Liegt dann nicht auch ein Teil der Verantwortung bei der Pharmaindustrie? Sie ist es doch, die den Markt mit immer neuen Präparaten flutet und Ärzte dazu anhält, diese auch zu verschreiben. Dabei könnte man eigentlich auf abhängig machende Arzneimittel verzichten – meint Professor Christoph Stein vom Klinikum für Anästhesiologie an der Charité Berlin. Er forscht in diesem Bereich, kriegt aber kaum bis keine Forschungsgelder für seine Arbeit. Warum unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung kaum wissenschaftliche Forschungen, die darauf abzielen, die zweithäufigste Sucht in Deutschland einzudämmen? Das Bundesministerium lässt dazu nur verlauten: „Über die Förderung wird nach … Kriterien wie beispielsweise der wissenschaftlichen Qualität und der Relevanz für Patientinnen und Patienten entschieden. Eine spezifisch auf nicht abhängig machende Medikamente ausgerichtete Fördermaßnahme hat das BMBF nicht aufgelegt.“
Und so sind bisher auch noch keine echten Alternativen zu abhängig machenden Arzneimitteln in Sicht, obwohl es diese laut Prof. Stein längst geben könnte. Warum das so ist, kann der Mediziner nur vermuten: „Es ist sicherlich so, dass viele pharmazeutische Firmen Angst vor solchen Substanzen haben.“
Alle relevanten Pharmaunternehmen treffen sich regelmäßig auf internationalen Messen wie der Münchener ExpoPharm. Riesige Stände veranschaulichen hier, wie gut das Geschäft mit Arzneimitteln läuft – allein in Deutschland werden jährlich über 1,5 Milliarden Arzneimittelpackungen verkauft. Mit echten, wirksamen Arzneimitteln darin. Diese 1,5 Milliarden Packungen enthalten nicht etwa völlig ungefährliche (weil unwirksame) homöopatische Globulis – aber selbst damit wurden im letzten Jahr weitere 670 Millionen Euro (!) umgesetzt, meist von den gleichen Pharmaunternehmen, die auch die echten Medikamente herstellen. Das sind Firmen wie Ratiopharm, Bayer oder Merck – und die wissen ganz genau, dass Homöopathie nicht über den Placeboeffekt hinauswirkt. Aber wenn es Patienten gibt, die geschütteltes Wasser mit zu vernachlässigenden Spuren von Wirkstoffen für teures Geld erwerben wollen, dann verkaufen sie es ihnen natürlich gerne. Wer kann ihnen das schon übelnehmen? Wer würde nicht gerne Wasser als edlen Wein verkaufen, wenn er dafür so viele dankbare Abnehmer fände? Nur der Kapitalismus kann solche „Erfolgsgeschichten“ schreiben.
Aber ich drifte ab – zurück zur ExpoPharm, auf der sich die 500 wichtigsten Pharmaunternehmen einmal jährlich selbst feiern. Wenn Journalisten hier Fragen nach der Mitverantwortung für Arzneimittelmissbrauch und daraus resultierende Abhängigkeiten stellen, dann lauten die Antworten entweder „Ich hab die Anweisung bekommen, nichts dazu zu sagen“ oder bestenfalls: „Das ist ein sehr wichtiges Thema, dass wir auch sehr ernst nehmen. Ich würde Sie bitten, diese Anfrage schriftlich zu stellen.“
Nur eine einzige Firmenvertreterin war bereit, vor der Kamera über das heikle Thema zu sprechen. Auf die Frage der Reporterin, wie die Firma damit umgehe, dass das von ihr vertriebene Medikament “Diazepam” (ursprünglich als “Valium” vermarktet) abhängig mache, antwortete Ute Washausen von der Krewel Meuselbach GmbH: „Wir haben ja Diazepam im Prinzip nicht mehr groß in der Bewerbung – es läuft halt mit uns mit. … Ärzte kennen den Umgang mit Benzodiazepinen, sie kennen auch das Abhängigkeitspotenzial. Und jedes Mittel hat seinen Nutzen und natürlich auch seine Risiken. Und auf die Risiken wird grundsätzlich auch in der Packungsbeilage bzw. in der Information für Fachkreise hingewiesen. … Die Benzodiazepine haben sicherlich ihren Einsatz – das entscheidet auch der jeweilige Arzt. Und bei einer kurzzeitigen Anwendung machen sie auch nicht abhängig, sie machen ausschließlich abhängig, wenn man sie längerfristig anwendet. Aber das entscheidet eben wirklich der Arzt aufgrund seiner Erfahrung und des Einsatzgebietes, wann es sinnvoll ist, dieses Medikament einzusetzen.“
Vermutlich spricht Ute Washausen hier stellvertretend für die ganze Pharmabranche, wenn sie die Verantwortung für Medikamentenmissbrauch und daraus resultierende Abhängigkeiten allein bei den Ärzten sieht. Aber ist die Arzneimittelabhängigkeit vieler Patienten für die Pharmaindustrie nicht längst ein wichtiger Wirtschaftsfaktor geworden? Hat die Industrie nicht auch ein (wirtschaftlich gesehen) berechtigtes Interesse an der Maximierung ihres Gewinns durch den massenhaften Verkauf von abhängig machenden Präparaten? Prof. Gerd Glaeske vom Forschungsinstitut der Uni Bremen wagt sich an eine Antwort: „Abhängigkeit bedeutet natürlich dauerhafte Verordnung eines Arzneimittels bzw. dauerhafte Einnahme. Das sind dann – wenn man so will – dauerhafte Kunden. Das gilt auch für Ärztinnen und Ärzte, die sich aber des Problems mehr und mehr bewusst sind. Darum wird dann manches lieber auf Privatrezept verordnet, damit es gar nicht erst entdeckt wird. Aber es ist natürlich die Abhängigkeit, die auf Dauer garantiert, dass solche Arzneimittel genommen werden müssen, damit keine Entzugserscheinungen entstehen, die oftmals sehr dramatisch sein können. Wir kennen Menschen, die über 15-20 Jahre dauerhaft Arzneimittel nehmen und das ist natürlich eine sichere Umsatzbank.“
Roland Holtz ist ein Insider der Branche, er war bei vier großen Pharmaunternehmen angestellt – als Pharmareferent bzw. als Leiter der Marketingabteilung. Er weiß, wie die Mitarbeiter geschult werden, um den Ärzten ihre Produkte zu verkaufen: „Ich bin der Ansicht, dass die pharmazeutische Industrie nicht sachgerecht über die Risiken und Wirkungen ihrer Präparate informiert. … Pharmareferenten kriegen ganz bestimmte Gesprächsinhalte vermittelt – wie jeder Verkäufer, wie jeder Versicherungsvertreter. Die Firma sagt das, und das hast du auch zu sagen. Pharmareferenten sind zudem weisungsgebunden – wenn sie es nicht tun, dann ist das ein Verstoß nach Arbeitsrecht. Der Vertreter geht also immer zum Arzt und sagt: ‚Ja, wir kennen die Nebenwirkungen. Aber bei unserem Präparat sind es weniger oder bei unserem Präparat ist das nicht der Fall.‘ Genauso habe auch ich gearbeitet. Ich hatte dann aber zunehmend Zweifel und habe das hinterfragt, indem ich in eine Uni-Bibliothek gegangen bin, indem ich mit Klinikleitern von Universitäten gesprochen und das hinterfragt und erforscht habe. Und als ich dann zum letzten Meeting kam und sagte: Passt auf, hier sind die Unterlagen eins, zwei, drei und vier. Das, was wir immer sagen, ist falsch – da habe ich die Kündigung bekommen.“ Laut Roland Holtz haben also zumindest manche Pharmaunternehmen kein besonderes Interesse daran, Medikamentenabhängigkeit und -missbrauch einzudämmen. Das Suchtpotenzial der Präparate wird lieber kleingeredet. Ob man dieses Verhalten als die Ausnahme oder die Regel verstehen will, liegt ganz im Auge des Betrachters.
Und so sind mal wieder alle schuld, bzw. keiner: Der Arzt, der zu wenig Zeit pro Patient hat, die Pharmafirma, die nur ihren Gewinn maximieren und der Patient, der „seine“ Medizin unbedingt weiterhin einnehmen will, obwohl er längst ahnt, dass er süchtig ist. Die Folgekosten von Arzneimittelmissbrauch und -abhängigkeit belasten unser Gesundheitssystem massiv. 14 Milliarden Euro waren es im Jahr 2008 – seitdem (seit über zehn Jahren!) gibt es seltsamerweise keine neuen Erhebungen oder Studien mehr dazu. 2018 wurde vom Gesetzgeber zwar eine Verordnung verabschiedet, die ab 2020 Warnhinweise auf Medikamentenverpackungen über die maximale Einnahmedauer rezeptfreier Schmerzmittel vorschreibt – doch was unternimmt die Politik außerdem gegen die zweithäufigste Sucht in Deutschland? Dazu befragt antwortete das zuständige Bundesgesundheitsministerium schriftlich: „Das Gesundheitsministerium beschäftigt sich seit Jahren … mit der Problematik der Medikamentensucht. Ziel ist vor allem, durch Information und Aufklärung die verantwortlichen Akteure, aber auch Patientinnen und Patienten für einen adäquaten Umgang mit Medikamenten zu sensibilisieren.“ Bei der Umsetzung dieses Ziels sieht das Ministerium aber vor allem jene „Akteure“ in der Pflicht: „Hier sind Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker, medizinisches Personal, Pflegekräfte, wissenschaftliche Fachgesellschaften, Behandlungseinrichtungen, Kranken- kassen, Berufsverbände, Suchtberatungsstellen etc. die verantwortlichen Akteure.“ Offensichtlich sind mal wieder alle in der Verantwortung außer der übergeordneten Behörde – in diesem Fall das Gesundheitsministerium. Letzteres beschränkt sich bei der „Sensibilisierung“ auch darauf, ab und zu mal ein paar Studien zu diesem Thema auf der hauseigenen Webseite zu veröffentlichen.
Aber das war es dann auch schon. Dabei bräuchte es gerade jetzt neue Studien dazu, um das weitgehend verdrängte bzw. ignorierte Problem der Arzneimittelsucht überhaupt wieder gesellschaftlich sichtbar zu machen. Die Politik sollte sich hier nicht länger aus der Verantwortung stehlen, da nur klare Gesetze und Verordnungen Patienten, Ärzte und Pharmaindustrie zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit Arzneimitteln verpflichten können. Warnhinweise sind ein Anfang, doch das reicht längst nicht aus. Denn eine Selbstregulierung auf Seiten der Patienten funktioniert ganz offensichtlich nicht – schließlich wollen sie nur das, wonach sie süchtig sind.
Und die Pharmaindustrie verkauft es ihnen.