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Kriegsverbrechen in Gaza – Netanyahu und die deutsche Mitschuld


Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ist für vieles bekannt: Für seinen autoritären Führungsstil, für Korruption, Machtmissbrauch und nicht zuletzt auch für Kriegsverbrechen gegen das palästinensische Volk. Mittlerweile wird er für Letzteres sogar vom Internationalen Strafgerichtshof per Haftbefehl gesucht. Die Proteste gegen Netanyahu und den Krieg in Gaza werden weltweit immer lauter, gleichzeitig streiten die Verteidiger Israels noch immer ab, dass es sich dabei um einen Völkermord handelt und beklagen einen Anstieg des Antisemitismus. Die Zerstörung und die zehntausenden zivilen Opfer in Gaza aber sind real. Es stellt sich also die Frage: Ist die Realität vielleicht antisemitisch?

Ein kontroverses Thema verdient einen kontroversen Einstieg, also bitte sehr: Wenn es eine Person gibt, die vor allem auf YouTube immer wieder für Aufregung sorgt, dann ist es wohl Candace Owens. Und genau die veröffentlichte im August unter dem Titel „What Does Israel Have On Donald Trump?“ ein Gespräch mit ihrem nicht weniger umstrittenen Kollegen Milo Yiannopoulos. Die beiden ehemaligen Trump-Unterstützer äußerten darin nicht nur ihre Enttäuschung über den US-Präsidenten, sondern bezogen auch eindeutig Stellung gegen die israelische Aggression in Gaza. Von Massenmord an unschuldigen Kindern war da die Rede und von der Feigheit des politischen Establishments, dies auch so deutlich zu benennen. Sie sprachen außerdem über die amerikanische Mitverantwortung an der Situation im Nahen Osten, vor allem an der systematischen Unterdrückung und Ermordung von Palästinensern und Muslimen.

Nun ist es nicht meine Absicht, hier den YouTube-Kanal von Candace Owens zu bewerben, deren ultrakonservatives und oft verschwörerisches Weltbild ich ansonsten wirklich nicht teile. Beim Thema Israel ist sie allerdings eine durchaus interessante Symbolfigur für einen grundlegenden Wandel der öffentlichen Meinung in den USA. Denn fast zeitgleich führte der als eher linksliberal geltende John Stewart in der „Daily Show“ ein Gespräch mit dem Journalisten Peter Beinart über die Kriegsverbrechen in Gaza und die Notwendigkeit der amerikanischen Juden, dagegen öffentlich aufzustehen. Und wenn Candace Owens und John Stewart trotz aller sonstigen ideologischen Unterschiede bei einem Thema praktisch derselben Meinung sind, dann hat sich eindeutig etwas bewegt. Die Proteste gegen den Krieg in Gaza finden auch beim wichtigsten Verbündeten Israels längst nicht mehr nur in den Universitäten statt, sie haben die Mainstream-Medien, Teile des konservativen Lagers und auch den Rest der Bevölkerung erreicht.

Laut einer Umfrage der „University of Maryland“ sympathisierte im Sommer 2025 erstmals eine Mehrheit der Amerikaner mit den Palästinensern anstatt mit Israel. Mehr als 60 % der Befragten waren der Meinung, dass die US-Regierung mitschuldig ist an dem, was in Gaza passiert, weil sie Israel nach wie vor als Bündnispartner unterstützt. Dass Donald Trump, wie schon seine Amtsvorgänger, dieses Bündnis aufrechterhält, hat natürlich „gute“ Gründe. Israel ist für die USA ein noch immer entscheidender Faktor für deren militärische und geopolitische Interessen im Nahen Osten. Daneben sorgen einflussreiche Lobby-Gruppen wie AIPAC („American Israel Public Affairs Committee“) dafür, dass in der amerikanischen Medien- und Politiklandschaft vor allem pro-israelische Stimmen zu Wort kommen. In Trump haben sie nun einen besonders eifrigen Fürsprecher, der schon öffentlich damit prahlte, den Gazastreifen in ein westliches Ferienparadies verwandeln zu wollen. Wie lange sich diese Art von zynischer Bündnistreue angesichts der zunehmenden internen und vor allem weltweiten Proteste noch aufrechterhalten lässt, ist fraglich.

In der Wahrnehmung der restlichen Welt hat Israel bereits sämtliche roten Linien überschritten. Nach dem Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 kam es zunächst zu einer weitreichenden Solidarisierungswelle, diese ist nun zwei Jahre später einer scharfen Verurteilung Israels gewichen. Was als Verteidigungskrieg begann, hat nach Einschätzungen internationaler Völkerrechtler längst genozidale Züge angenommen. Mehr als 67.000 Todesopfer, die meisten davon Zivilisten, darunter tausende Kinder, die Zerstörung von Infrastruktur, Schulen und Krankenhäusern, wochenlange Lebensmittelblockaden, dazu ein vom israelischen Kabinett beschlossener Plan, die Palästinenser endgültig aus Gaza zu vertreiben – es scheint, als gebe es in dem Vernichtungswahn gegenüber der palästinensischen Bevölkerung keine Grenzen mehr. Die UN-Menschenrechtskommission hat mittlerweile Israel offiziell vorgeworfen, einen Völkermord zu begehen: „Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass im Gazastreifen ein Genozid verübt und fortgeführt wird“ – so die Leiterin der Untersuchungskommission in Genf, Navi Pillay.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat bereits im Herbst 2024 einen Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu erlassen. Dabei geht es um den Vorwurf von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit. Es wird davon ausgegangen, dass der Zivilbevölkerung im Gazastreifen absichtlich wesentliche Dinge für ihr Überleben wie Nahrung, Wasser, Medikamente und Strom vorenthalten werden. Der Internationale Strafgerichtshof hat nun allerdings das Problem, dass er keine eigenen Vollzugsbehörden besitzt. Einen Haftbefehl kann er also nicht selbst vollstrecken, sondern ist auf die Unterstützung seiner 125 Mitgliedsstaaten angewiesen, zu denen Israel und auch die USA nicht gehören. Und solange die US-Regierung Israels wichtigster Verbündeter bleibt, ist mit einer tatsächlichen Verhaftung Netanyahus kaum zu rechnen. Der Haftbefehl aus Den Haag ist insofern zwar ein bedeutendes, vorerst aber nur ein symbolisches Signal.

Netanyahu bestreitet (nicht sehr überraschend) all diese Vorwürfe. Für ihn liegt die Schuld für den Krieg in Gaza allein bei der Hamas und deren Angriff vom 7. Oktober 2023, bei dem rund 1.200 Israelis getötet und mehr als 250 verschleppt wurden. Seine Bedingungen für das Ende des Krieges lauten daher: Freilassung aller Geiseln, die vollständige Entwaffnung und Entmilitarisierung der Hamas sowie eine israelische Sicherheitskontrolle über den Gazastreifen. Die Durchsetzung dieser Bedingungen versucht er nun schon seit zwei Jahren gewaltsam herbeizuführen. Dass er das palästinensische Volk dabei offenbar als notwendigen Kollateralschaden ansieht, zeigt eine perfide und menschenverachtende Haltung, für die er inzwischen international geächtet und angeklagt wurde. In der Palästinenser-Frage gilt Netanyahu aber nicht erst seit 2023 als unerbittlicher Hardliner. Er ist nicht nur der am längsten amtierende Ministerpräsident Israels, sondern derzeit auch das Oberhaupt der rechtsextremsten und religiösesten Regierung in der Geschichte des Landes. So lehnt er auch die Idee eines unabhängigen Palästinenserstaates strikt ab und hat in seiner Amtszeit stattdessen die Annexion von Palästinensergebieten weiter vorangetrieben.

Umstritten ist Netanyahu auch in seinem eigenen Land, vor allem wegen zahlreicher Bestechungs- und Betrugsvorwürfe. Seit mehreren Jahren laufen verschiedene Strafverfahren gegen ihn wegen Korruption und Vorteilsnahme im Amt, was ihm auch schon den Spitznamen „Crime Minister“ (anstelle von „Prime Minister“) eingebracht hat. In dem 2024 veröffentlichten Dokumentarfilm „The Bibi Files“ wurden die Hintergründe der Korruptionsvorwürfe erstmals detailliert beleuchtet. Der Film, dessen Aufführung „Bibi“ Netanyahu zu verhindern versuchte, zeigt geleaktes Verhörmaterial der israelischen Polizei aus dem Strafprozess gegen den Ministerpräsidenten und seine offenbar ebenso korrupte Ehefrau und lässt zahlreiche Insider zu Wort kommen. Das Ergebnis ist verheerend: es zeigt einen arroganten und paranoiden Regierungschef, der sich über dem Gesetz wähnt und sich mit aller Macht an sein Amt klammert. Vielleicht ist auch deshalb der Film in Israel offiziell nicht zu sehen. Der Widerstand gegen Netanyahu wird innerhalb der israelischen Gesellschaft dennoch immer stärker. In Deutschland ist die Dokuserie „The Bibi Files“ seit September 2025 unter dem Titel „Die Akte Netanyahu“ in der ARD-Mediathek abrufbar, wenn auch in etwas gekürzter Form. Abgesehen davon wird man aber auch auf YouTube und bei anderen Quellen fündig.

Was die Dokumentation außerdem deutlich macht: der Krieg in Gaza scheint für Netanyahu ein willkommenes Mittel zu sein, um einer Strafverfolgung zu entkommen und an der Macht zu bleiben. Insofern hat er an einer baldigen Beendigung des Konfliktes auch kein Interesse. Der israelische Journalist Raviv Drucker spricht in „The Bibi Files“ davon, dass alle Entscheidungen Netanyahus in den letzten fünf Jahren, inklusive der Kriegsführung in Gaza, von seinem Strafprozess und einer drohenden Inhaftierung überschattet waren. In diesem Zusammenhang erscheint es mir passend, einmal kurz den Aluhut aufzusetzen und zu fragen, wie es denn eigentlich sein kann, dass ein Staat mit dem angeblich besten Geheimdienst der Welt und einem hochgerüsteten Abwehrsystem namens „Iron Dome“ am Morgen des 7. Oktober 2023 plötzlich von einer Handvoll Hamas-Terroristen überrumpelt wurde, die ohne Probleme die Grenze überwinden und hunderte von Geiseln nehmen konnten? Und das, obwohl die Israelis zuvor sogar noch vom ägyptischen Geheimdienst mehrmals vor einem möglichen Anschlag gewarnt wurden? Ist der daraufhin zu erwartende Vergeltungskrieg nicht geradezu die perfekte Ablenkungsstrategie für ein wegen Korruption angeklagtes Staatsoberhaupt?
Geht das jetzt schon zu sehr in Richtung Verschwörungstheorie? Gut, dann setze ich den Aluhut wieder ab und gehe davon aus, dass die israelische Regierung damals tatsächlich komplett ahnungslos war und von dem Überfall der Hamas völlig überrascht wurde. Dann bleibt aber immer noch die Frage, wie 1.200 tote Israelis den Tod von 67.000 Palästinensern und die Zerstörung einer gesamten Region rechtfertigen? Und die Zahl der Opfer steigt ja leider immer noch weiter an. Diese Rechnung geht eigentlich nur auf, wenn einem das Leben von Palästinensern weniger wert erscheint als das der eigenen Landsleute. Und wo Menschen entwertet werden, fällt das Töten natürlich leichter. Diese Entmenschlichung ist eine der klassischen Grundlagen für Rassismus und Apartheid, und es war einst auch die Grundlage für den Holocaust. Es ist also eine mehr als bittere Ironie der Geschichte, wenn heute rechtsextreme Kreise in Israel unter der Führung von Benjamin Netanyahu meinen, das Existenzrecht ihres eigenen Volkes nur verteidigen zu können, indem sie einem anderen Volk das Existenzrecht absprechen.

In vielen Medien wird noch immer darüber diskutiert, ob es sich in Gaza nun tatsächlich um einen Völkermord handelt oder nicht. Beide Seiten, die pro-israelische und die pro-palästinensische, stehen sich dabei unversöhnlich gegenüber und werfen sich gegenseitig Übertreibungen und Propaganda vor. Die Verteidiger Israels wähnen sich, ähnlich wie der paranoide Netanyahu, mit einer zunehmend feindlichen Weltöffentlichkeit konfrontiert. Sie pochen auf Israels Recht zur Selbstverteidigung und beklagen in dem Zusammenhang eine Zunahme des Antisemitismus. Die Frage nach der genauen Definition dieses Krieges, ob nun Genozid oder nicht, lenkt am Ende aber wohl vom eigentlichen Problem ab. Interessiert die Opfer in Gaza wirklich, wie amerikanische oder europäische Journalisten das Ganze „einordnen“? Wer sich bei dem Thema in erster Linie um Begriffsdeutungen oder Antisemitismus Sorgen macht, sollte sich stattdessen vielleicht einfach mal die Tatsachen in Gaza
anschauen – denn die Zahl der Todesopfer, das Leiden und die Zerstörung sind real. Ist die Realität inzwischen also antisemitisch? Das wäre eine doch ziemlich gewagte Schlussfolgerung.

In vielen Medien wird noch immer darüber diskutiert, ob es sich in Gaza nun tatsächlich um einen Völkermord handelt oder nicht. Beide Seiten, die pro-israelische und die pro-palästinensische, stehen sich dabei unversöhnlich gegenüber und werfen sich gegenseitig Übertreibungen und Propaganda vor. Die Verteidiger Israels wähnen sich, ähnlich wie der paranoide Netanyahu, mit einer zunehmend feindlichen Weltöffentlichkeit konfrontiert. Sie pochen auf Israels Recht zur Selbstverteidigung und beklagen in dem Zusammenhang eine Zunahme des Antisemitismus. Die Frage nach der genauen Definition dieses Krieges, ob nun Genozid oder nicht, lenkt am Ende aber wohl vom eigentlichen Problem ab. Interessiert die Opfer in Gaza wirklich, wie amerikanische oder europäische Journalisten das Ganze „einordnen“? Wer sich bei dem Thema in erster Linie um Begriffsdeutungen oder Antisemitismus Sorgen macht, sollte sich stattdessen vielleicht einfach mal die Tatsachen in Gaza anschauen – denn die Zahl der Todesopfer, das Leiden und die Zerstörung sind real. Ist die Realität inzwischen also antisemitisch? Das wäre eine doch ziemlich gewagte Schlussfolgerung.

Die Haltung der deutschen Öffentlichkeit zum Krieg in Gaza ist bekanntermaßen besonders kompliziert, um nicht zu sagen angespannt, denn hier gibt es die sogenannte „Staatsräson“. Diese macht aufgrund des Völkermordes an den Juden in der Zeit des Nationalsozialismus die Sicherheit und Existenz Israels sozusagen zur deutschen Chefsache. Und das ist auch verständlich: die Enkel der Täter sind bemüht, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. „Nie wieder“ heißt hier das Motto, mit dem an die historische Schuld der Deutschen erinnert werden soll. Was aber leider auch dazu führt, dass Kritik an der Politik Israels hierzulande meist noch schneller mit dem Vorwurf des Antisemitismus begegnet wird als anderswo. Sogar Juden werden von deutschen Instanzen mittlerweile als Antisemiten bezeichnet. Der Verein „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ durfte sich zum Beispiel derartige Zuschreibungen schon mehrfach gefallen lassen. Dabei scheint es absurd, jegliche Kritik an der israelischen Besatzung und an dem brutalen Krieg in Gaza unter dem Deckmantel einer „Staatsräson“ unterdrücken zu wollen. Ist der Staat Israel etwa immun gegen Kritik? Wohl kaum.

In diesem Zusammenhang ist es aber auch wichtig zu wissen, von wem genau diese dogmatische Verteidigung Israels betrieben wird. Oft stecken konservative, CDU-nahe Medien dahinter, an vorderster Front der Axel Springer Verlag. Der heute weltweit agierende Medienkonzern ist einer der größten in Europa und entsprechend einflussreich. Neben der BILD-Zeitung, der WELT und anderen
Tageszeitungen steckt er auch hinter zahlreichen digitalen Plattformen und TV-Sendern. Sein einstiger Gründer Axel Springer erklärte bereits in den 60er Jahren weltanschauliche Grundsätze, die bis heute für jeden Mitarbeiter des Konzerns verpflichtend sind. Dazu gehört die Unterstützung des transatlantischen Bündnisses zwischen den USA und Europa und eben auch ein strammes Bekenntnis zu Israel. Letzteres macht sich in einer extrem einseitigen Berichterstattung über den Nahen Osten und ganz besonders über Israels Krieg in Gaza bemerkbar. Wann immer Springer-Medien über pro-palästinensische Demonstrationen berichteten, war bisher ausnahmslos von „Judenhass-Demos“ oder wahlweise „Israelhass-Demos“ die Rede. Es sind oftmals dieselben Journalisten, die jeden, der sich den Transatlantikern in den Weg stellt, als neuen Hitler bezeichnen, sich gleichzeitig aber bedingungslos hinter einen rechtsextremen Hardliner und Kriegsverbrecher wie Netanyahu stellen. So viel Moralakrobatik muss man erst einmal hinbekommen!

Trotz allem ist die Stimmung auch in Deutschland längst gekippt und die Proteste nehmen zu. In diesem Jahr kam es zu einer ganzen Reihe von Großdemonstrationen in Berlin und anderen Städten, die auch immer mehr Zulauf von prominenter Seite hatten. Anfang September fand die von Sarah Wagenknecht organisierte Kundgebung „Stoppt den Völkermord in Gaza“ am Brandenburger Tor statt,
nur wenige Wochen später dann die bisher wohl größte Demo unter dem Motto „All Eyes on Gaza“ mit geschätzten 100.000 Teilnehmern. Die Organisatoren (ein Bündnis von über 50 Verbänden) verurteilten in ihrer Erklärung ausdrücklich alle Kriegsverbrechen, unabhängig davon, ob sie von israelischer oder palästinensischer Seite begangen werden. Angesichts der Tötungen und Zerstörungen in Gaza richtet sich die Hauptkritik jedoch gegen die israelische Regierung und deren Unterstützer. Gefordert wird daher auch ein Ende der deutschen Waffenlieferungen an Israel. Denn Deutschland unterstützt als einer der führenden Rüstungsexporteure damit indirekt das Morden in Gaza. Das musste auch Bundeskanzler Merz einsehen und verkündete öffentlichkeitswirksam die Beendigung der Lieferungen deutscher Waffen, die von Israel auch im Gaza-Streifen eingesetzt werden könnten. Eine Gruppe von Juristen in Berlin stellte inzwischen Strafantrag gegen Mitglieder der aktuellen und der vorherigen Bundesregierung sowie gegen Vorstände deutscher Rüstungsfirmen.

Der Diplomat Christoph Heusgen (ein ehemaliger außenpolitischer Berater von Angela Merkel) meint, dass Deutschland sogar vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Beihilfe zum Genozid in Gaza verurteilt werden könnte. Bereits im April 2024 hatte Nicaragua eine entsprechende Klage gegen Deutschland vor dem Internationalen Gerichtshof eingereicht. Es ist das erste Mal, dass ein europäischer Staat für seine Unterstützung Israels in dieser Art zur Verantwortung gezogen werden soll. Heusgen forderte außerdem von der deutschen Justiz die Umsetzung des internationalen Haftbefehls gegen Benjamin Netanyahu. „Es ist wichtig, dass wir als Deutsche internationales Recht umsetzen – unbesehen der Person. Denn auch das gehört zur deutschen Staatsräson.“

Ob diese Botschaft auch bei der Regierung ankommt? In diesem Zusammenhang wird es wohl auch Zeit, dass Deutschland endlich Palästina als Staat anerkennt – so wie es erst kürzlich Großbritannien, Frankreich, Kanada und Australien auf der UN-Vollversammlung taten. Wie isoliert Israel mittlerweile innerhalb der Staatengemeinschaft ist, zeigte sich während der Rede von Netanyahu vor der UN: Ein Großteil der Delegationen verließ demonstrativ den Saal, während er vor fast leeren Rängen gegen die mangelnde Unterstützung für sein Land wetterte.

Während ich diesen Text beende (Stand Anfang Oktober), kommen weiterhin beinah täglich Meldungen, an die wir uns inzwischen leider schon fast gewöhnt haben: wieder wurden 50 Menschen in Gaza durch israelische Angriffe getötet, darunter ganze Familien. Zeitgleich kommt die weltweit gefeierte Nachricht von einem „Friedensplan“, den Trump und Netanyahu unter Beteiligung einiger arabischer Staaten ausgearbeitet haben und der im Prinzip nur die bereits bekannten Bedingungen der israelischen Regierung wiederholt: eine vollständige Kapitulation der Hamas, die Freilassung aller verbliebenen Geiseln und ein Gazastreifen unter dauerhafter militärischer Kontrolle. Netanyahu versucht so offenbar unter dem Deckmantel der Diplomatie das zu erreichen, was ihm in zwei Jahren systematischer Bombardierung und Zerstörung nicht gelungen ist. Dabei offenbart dieser Plan den selben kolonialen Geist, der schon seit Jahrzehnten den Umgang der israelischen Hardliner mit den Palästinensern bestimmt. Im Klartext: es sind weiterhin keine Gleichberechtigung, kein eigener Staat und keine politische Selbstbestimmung vorgesehen. Was eventuell auch daran liegt, dass es nebenbei längst Pläne einer internationalen Investorengruppe gibt, den Gaza-Streifen in eine ultramoderne „Sonderwirtschaftszone“ nach dem Vorbild von Singapur zu verwandeln. Umsetzen sollen dieses Vorhaben unter anderem Trumps Schwiegersohn Jared Kushner sowie der ehemalige britische Premierminister Tony Blair. Teil dieser Zone sollen dann offenbar auch ein Freizeit- und Hotelressort sein – Trumps bizarre Social-Media-Träume von einem westlichen Ferienparadies in Gaza entsprangen also nicht nur seiner eigenen Fantasie. Dass Gaza die Heimat des palästinensischen Volkes ist, interessiert diese Herrschaften natürlich nicht. Das zeigte sich auch, als die israelische Marine Anfang Oktober mehrere Schiffe einer internationalen Flottille stoppte, die Hilfsgüter für die Bevölkerung in Gaza an Bord hatte. Die dabei verhafteten Aktivisten, darunter auch Greta Thunberg, bezeichneten dieses Vorgehen als völkerrechtswidrig.

In einer ersten Reaktion auf Trumps und Netanyahus Plan stimmte die Hamas überraschend der Freilassung der restlichen israelischen Geiseln zu, forderte im Gegenzug aber die Freilassung zahlreicher eigener Mitglieder, die an den Angriffen vom 7. Oktober 2023 beteiligt waren. Und während die Verhandlungen darüber in Ägypten liefen, wurden in Gaza wieder einmal rund 70 Menschen während neuer Bombenangriffe getötet, kurz darauf noch einmal etwa 25. Die Zahl der Opfer dürfte sich schon bald der 70.000 nähern, darunter sind inzwischen auch hunderte ausländische Journalisten und Mitarbeiter von internationalen Hilfsorganisationen. Und so geht es weiter und weiter. Israel „must finish the job“ – so nennt Netanyahu das.

Internationale Resolutionen und Urteile hin oder her, solange Netanyahu an der Macht bleibt, ist mit einem wirklichen Ende des Konfliktes wohl nicht zu rechnen, von einer Gleichberechtigung
der Palästinenser ganz zu schweigen. Wenn die Israelis es nicht schaffen, ihre derzeitige Regierung selbst abzusetzen, die Kriegsverbrechen unter einer neuen gemäßigten Führung aufzuarbeiten und entgegen den neokolonialen Interessen internationaler Investoren gemeinsam mit den Palästinensern an einer Zweistaatenlösung zu arbeiten, sieht es düster aus für einen dauerhaften Frieden in der Region. Vielleicht ist es dafür auch schon zu spät, denn der Gazastreifen ist fast vollständig zerstört – ein Zurück zur Normalität kann es für die Überlebenden kaum geben. Und mehr Todesopfer bedeuten eben auch mehr Märtyrer und in Zukunft potentiell noch mehr Terror. Schließlich ist die Hamas ursprünglich als Reaktion auf die israelische Besatzung der Palästinensergebiete entstanden. So lange die Besatzung und Fremdbestimmung dort also anhalten oder sogar noch verstärkt werden, so lange wird es dagegen auch Widerstand geben, so viel sollte klar sein. Und auch die weltweiten Proteste werden anhalten – all das lässt sich auf Dauer eben nicht wegbomben.

Um abschließend noch einmal auf die deutsche (Mit)Schuld zurückzukommen: Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass es hierzulande viele gutmeinende Menschen gibt, die sich aufgrund unserer Vergangenheit noch immer in einem moralischen Dilemma bei der Beurteilung Israels und des Gaza-Krieges wähnen. Dabei ist dieses vermeintliche Dilemma eigentlich recht einfach zu lösen. Der Holocaust liegt mehr als 80 Jahre zurück. An ihn zu erinnern und gegen tatsächlichen Judenhass aufzustehen, ist nach wie vor wichtig – keine Frage. Wer auf dieser Grundlage aber blind wird für die aktuellen Kriegsverbrechen Israels, hat leider nicht wirklich etwas aus der Geschichte gelernt. Menschenrechte sind universell, sie gelten selbstverständlich auch für Palästinenser. Ein einseitiges Bekenntnis gegen Antisemitismus unter dem Motto „Nie wieder“, das dies nicht berücksichtigt, ist leider wertlos.
Denn es geht über Leichen.