Meine Rucksackreise durch Indien im Alter von 20 Jahren liegt zwar schon viele Jahre zurück, hat meine Sicht auf Mythologie und Spiritualität jedoch bis heute nachhaltig geprägt. Zum ersten Mal erlebte ich dort mythologische Erzählungen nicht nur theoretisch, sondern als gelebte Realität. Besonders beeindruckt hat mich die Vorstellung, dass Gottheiten auch in Pflanzen (ebenso wie in Tieren und Mineralien) inkarnieren und dass Pflanzen eine eigene Seele besitzen. Ebenso faszinierend war für mich, wie tief die Mythologien im spirituellen Gefüge des Landes verwurzelt sind.
Während Mythen in vielen Kulturen nur noch als symbolische oder metaphorische Erzählungen betrachtet werden, sind sie in Indien eine lebendige, allgegenwärtige Kraft. Sie manifestieren sich in Ritualen, Festen und dem täglichen Leben der Menschen, die diese Geschichten nicht nur bewahren, sondern aktiv weitertragen. Letztlich hat mir diese Reise gezeigt, dass Mythen weit mehr sind als überlieferte Erzählungen. Sie sind lebendige Systeme, die das Verhältnis zwischen Mensch, Natur und Spiritualität ordnen.
Die erstaunliche Ähnlichkeit der mythologischen Erzählungen in den verschiedenen Kulturen rund um den Erdball, trotz der geografischen Isolation und der Unmöglichkeit eines direkten Austauschs zwischen den einstigen Urvölkern, lässt darauf schließen, dass die Mythologie weit mehr ist als ein Spiegel der Seele eines Volkes, der alles schildert und erhält, was ein Volk in urgeschichtlicher Zeit erlebt hat. Diese Mythen scheinen vielmehr tief in der menschlichen Psyche verwurzelt zu sein – als universelle Ausdrucksformen unbewusster seelischer Vorgänge. Wie der Psychologe Carl Gustav Jung es formulierte, stellen Mythen Sinnbilder für die tiefsten und ältesten seelischen Prozesse dar, die allen Menschen gemeinsam sind. Diese Archetypen und Motive tauchen seit Jahrtausenden in allen Kulturen immer wieder auf und spiegeln damit universelle psychologische Wahrheiten wider, die unabhängig von Zeit und Ort immer wieder neu zum Leben erweckt werden und sich wiederholen. Somit sind sie nicht nur Zeugnisse der Geschichte eines einzelnen Volkes, sondern vielmehr Ausdruck einer universellen menschlichen Erfahrung, die in ihrer Tiefe und Bedeutung über verschiedene Kulturen hinweg gleichermaßen gültig ist.


