Berlin-Kritik eines Zugereisten

Berlin-Kritik eines Zugereisten

Vor einigen Jahren bin ich nach Berlin gezogen. Der Grund dafür war, dass ich in der Stadt leben wollte, in der die Leute leben, die in Deutschland unsere Politik bestimmen. Okay, da fragen jetzt einige: Hätte man dann nicht eher zu VW nach Wolfsburg ziehen müssen?

Also nochmal präziser ausgedrückt: Ich wollte in der Stadt leben, in der die Leute leben, die wir in Deutschland in den Bundestag wählen. Ich wollte näher ran – näher ran an deren Alltag. Ich wollte wissen: Wie beeinflusst der Wohnort eines Politikers dessen Politik? Berlin hat ja zum Beispiel das Motto: „Arm, aber sexy“. Und wenn ich mir den Andreas Scheuer so angucke: Arm stimmt.

Außerdem dachte ich mir: Nach Berlin ziehen – wo ist das Problem? Ich komme ja ursprünglich aus Gelsenkirchen, und in Gelsenkirchen pflegt man einen rauen Umgangston – und in Berlin pflegt man auch einen rauen Umgangston. Das sollte doch wohl zu machen sein. Ich hatte nur eins nicht bedacht: Der Gelsenkirchener sagt „Na, du Arsch“, und meint damit „Hallo, mein Freund“. Der Berliner sagt „Na, du Arsch“ und meint damit „Na, du Arsch“ – das brauchte etwas Zeit, bis ich das raus hatte.

Meine erste Erfahrung mit der Berliner Mentalität (da war ich ganz frisch umgezogen) machte ich, als ich zum Einkaufen in einen Supermarkt ging, und am Ende war nur eine Kasse auf, mit einer Kassiererin,
und eine ziemlich lange Schlange davor. Also, es ging wirklich echt langsam voran, und man musste auch wirklich ‘ne ziemliche Zeit warten. Und plötzlich plärrt einer von hinten laut aus der Schlange heraus: „Zweete Kasse!“
Ich mein, das kannte ich von Gelsenkirchen auch. Nur, dass wir das nicht mit „ee“, sondern mit „ei“ aussprechen. „Zweite Kasse“. Das „ee“ benutzt der Gelsenkirchener vorne: „Ee, zweite Kasse“.
Der Unterschied ist nur jetzt wieder der: Wenn ein Gelsenkirchener ruft: „Ee, zweite Kasse“, dann meint der: „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe, aber die Schlange hier ist jetzt doch schon ziemlich lang.
Könnten Sie freundlicherweise mal kucken, ob jemand eine zweite Kasse öffnen würde?“
Der Berliner ruft: „Zweete Kasse!“ und meint damit: „Zweete Kasse!“ Und jetzt ist es ja so: Wenn irgendwo in Deutschland (von Flensburg bis Oberammergau) irgendjemand durch den Supermarkt rumproletet: „Zweete Kasse!“, dann wird der in 99 % der Fälle von den anderen Kunden schräg angeguckt, und vor allem fühlt sich die Kassiererin dadurch jetzt nicht unbedingt charmant angeflirtet. Gut, außer in Gelsenkirchen, aber da weiß die Kassiererin ja, wie es gemeint ist, und antwortet entsprechend:
„Aber selbstverständlich frag ich doch gerne mal für Sie nach einer zweiten Kasse.“ Was dann also in Gelsenkirchen in etwa so klingt: „Pass ma auf Männeken, noch einmal der Ton, und du stellst dich ganz nach hinten an!“