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„Drogen sind nicht das Problem“

Auf den ersten Blick würden sicher die wenigsten Menschen Dr. Carl Hart für einen Experten auf dem Gebiet der Neuropharmakologie halten. Mit seinen dicken Dreadlocks, die ihm lang über die Schultern hängen, den Ohrringen und einem Goldzahn, der frech aufblitzt wenn er lächelt, denkt man zunächst an den Leadsänger einer highteren Reggaeband. In seiner Autobiografie High Price: A Neuroscientistʼs Journey of Self-Discovery That Challenges Everything You Know about Drugs and Society schildert er sehr offen und detailliert, wie er es als eins von sieben Kindern aus einem der ärmsten Viertel Miamis bis in die renommiertesten Hochschulen der USA schaffte und zu einem der führenden Experten auf dem Gebiet der Bewusstseinsforschung und einem der größten Kritiker des „War on Drugs“ wurde.

In Ihrem Buch behaupten Sie, dass fast alles, was die Öffentlichkeit über Drogen denkt, vollkommen falsch ist. Wie meinen Sie das?

Drogen werden seit Jahrzehnten als Sündenbock für die verschiedensten sozialen Probleme – von Kriminalität zu Verarmung und sozialer Verelendung – missbraucht. Die Leute glauben die unmöglichsten Dinge im Zusammenhang mit Drogen. Viele vertreten die Meinung, dass der Gebrauch von Drogen unweigerlich zu kriminellen Handlungen seitens der User führt. Dabei ist Alkohol nachweislich die mit Abstand häufigste Substanz, unter deren Einwirkung Straftaten verübt werden. Tatsache ist aber auch, dass die Mehrheit der Menschen, die Alkohol trinken, keine Verbrechen begehen. Es ist also nicht die pharmakologische Wirkung der Droge, sondern eher das Umfeld und die Umstände, die für kriminelles Verhalten sorgen. Die Illegalität und die mit ihr verbundenen hohen Gewinnspannen sorgen für eine hohe Gewaltbereitschaft bei denjenigen, die in die Geschäfte mit verbotenen Substanzen verwickelt sind, und nicht die Drogen selbst oder deren Wirkung.

Abgesehen von den Verbrechen, die die meisten Menschen mit Drogen assoziieren, sind weit verbreitete Irrtümer, dass Drogenkonsum unweigerlich die geistige Leistungsfähigkeit einschränkt, Drogenkonsumenten keine funktionierenden Mitglieder der Gesellschaft sein können und Drogen unweigerlich Familien zerstören. Dabei ist es eine Tatsache, dass die meisten User ihr Leben ebenso unter Kontrolle haben wie Nicht-Konsumenten – nur ein kleiner Prozentsatz hat seinen Drogenkonsum nicht im Griff. Wer diese Fakten berücksichtigt, wird unweigerlich zu dem Schluss gelangen, dass es nicht nur an den Drogen liegen kann, wenn jemand die Kontrolle über seinen Konsum verliert – dabei spielen auch Faktoren wie die individuelle, soziale und ökonomische Situation eine entscheidende Rolle. Dank unzähliger seriöser wissenschaftlicher Studien wissen wir heutzutage ziemlich genau, wie die verschiedenen Drogen auf den Menschen wirken und welche Vor- und Nachteile mit ihrem Konsum für den Einzelnen und die Gesellschaft verbunden sein können. Wir wissen die Wahrheit, aber aus politischen und persönlichen Interessen heraus wird sie der Bevölkerung vorenthalten. Politiker, Gesetzgeber, Eltern und sogar Wissenschaftler haben Interesse daran, die Wahrheit zu verschweigen. Ich sage, die Leute sollten stattdessen die Fakten berücksichtigen und bestimmen lassen, was sie denken.

In High Price schildern Sie sehr detailliert, welche Rolle Drogen bisher in Ihrem Leben gespielt haben und was Sie persönlich bewegt hat, sich der Erforschung von Drogen und der Abhängigkeit von ihnen zu widmen. Haben Sie sich keine Sorgen gemacht, dass diese Offenheit von Kritikern gegen Sie verwendet werden könnte?

Ich wuchs als eins von sieben Kindern in einem der ärmsten Viertel Miamis auf. Meine Mutter war von der Situation total überfordert und so trieb ich mich schon als Junge hauptsächlich mit älteren Jugendlichen auf der Straße herum. Wir bauten Mist, spielten mit Schusswaffen und rauchten Pot. Das ist die tägliche Realität, wenn man in einem Armutsviertel aufwächst. Natürlich war mir bewusst, dass meine Kritiker und Gegner meine Vergangenheit gegen mich verwenden konnten, aber das war mir letztendlich egal. Als Wissenschaftler bin ich der Wahrheit verpflichtet. Mein Job ist es, die Leute anhand wissenschaftlicher Fakten aufzuklären – auch wenn die Wahrheit gegen den Status Quo geht.

Die da wäre?

Vor allem hier in den USA ist die Drogenpolitik für unglaubliche gesellschaftliche Ungerechtigkeiten verantwortlich – im Namen von Recht und Gesetz und unter dem Vorwand, die Öffentlichkeit vor Drogen schützen zu müssen, passieren nach wie vor ungeheuerliche und menschenverachtende Dinge. Als ich anfing, mich mit Drogen und Suchtverhalten zu beschäftigen, hoffte ich, das Problem der Drogensucht eines Tages lösen zu können. Doch dann stellte ich fest, dass eine verfehlte und falsche Drogenpolitik das eigentliche und viel größere Problem ist. Ich habe mittlerweile selber Kinder und will nicht, dass sie in Ignoranz und mit Lügen aufwachsen. Mit der Veröffentlichung meiner persönlichen und beruflichen Erfahrungen wollte ich aktiv etwas dafür tun, dass meine Kinder in einer aufrichtigeren Welt aufwachsen und die Wahrheit über Drogen erfahren. Vor allem in der westlichen Gesellschaft existiert dieser Mythos, dass erfolgreiche Menschen unfehlbar sind. Wer es hier geschafft und Reichtum und Berühmtheit erlangt hat, der nimmt keine Drogen, hat keine Affären und ist auch sonst ein geradezu perfekter Mensch. Das ist natürlich völliger Blödsinn und hat mit der Realität nichts zu tun. Aber so wird vor allem Kindern und Jugendlichen ein völlig falsches und gefährliches Bild vermittelt, das sie glauben lässt, selber auch perfekt sein zu müssen. Dabei wissen wir längst, dass Menschen alles andere als perfekt sind – das ist eine der Lehren, die ich meinen Kindern und Lesern vermitteln wollte.