Normalerweise versuchen wir ja immer, möglichst aktuelle, gesellschaftspolitische Themen zu betrachten. Doch manchmal kann Geschichte auch spannend sein – vor allem, wenn es sich dabei um eine Geschichte handelt, die kaum jemand kennt. Auch ich hätte sie nicht erfahren, wenn sie mir nicht mein Vater erzählt hätte – er war es auch, der die Informationen dieses Artikels im Laufe der Jahrzehnte gesammelt hat.
Als Mitarbeiter des Deutschen Fernsehfunks in Berlin-Adlershof hatte mein Vater Mitte Juni 1957 in einer Zeitung einen Bericht über den einstigen US-Airforce-Piloten Claude R. Eatherly entdeckt, der ein amerikanisches Gericht dazu zwingen wollte, ihn zu bestrafen. Eatherly fühlte sich für den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima am 6. August 1945 verantwortlich – schließlich hatte er die Zielfreigabe für den Abwurf erteilt. Doch bestrafen wollte man ihn nicht – lieber für verrückt erklären. Frei nach diesem Schicksal schrieb mein Vater das Drehbuch für ein Fernsehspiel, das am 12. Jahrestag des ersten Atombombenabwurfs ausgestrahlt wurde.
Mein Vater interessierte sich aber auch weiterhin für dieses Thema und stellte (wie mittlerweile auch viele Historiker) fest, dass der Abwurf der Atombombe im August 1945 militärisch gar nicht mehr erforderlich war – Japans militärische Führung hatte bereits am 21. Juli die nahezu vollständige Kapitulation angeboten und dabei nur eine Bedingung gestellt: Die Monarchie des Landes sollte erhalten bleiben. Weil aber die neue Superwaffe, deren erste Ziele ursprünglich die deutschen Städte Dresden und Hamburg sein sollte, noch nicht ganz einsatzbereit war, forderten die USA eine totale Kapitulation, die auch die Person des Tenno (japanischer Kaiser) einschloss. Man wusste, dass dies für die nationale Ehre Japans unannehmbar war und gewann so ausreichend (Kriegs)Zeit, um die zwei ersten Atombomben fertigzustellen und hatte dann auch noch einen „legitimen“ (Kriegs)Grund, um sie über Japan abzuwerfen.
Zuvor hatte man die dicht besiedelte und ähnlich wie Dresden in einem Flusstal liegende Stadt Hiroshima über Wochen darauf „trainiert“, dass täglich ein einzelner Langstreckenbomber in großer Flughöhe (für Flugabwehrgeschütze unerreichbar) erscheint, um eine einzige konventionelle Sprengbombe abzuwerfen. Deswegen stieg bald kein Jagdflugzeug mehr auf und es wurde wegen der stets einzelnen Bombe auch kein (die vorhandenen Betriebe lähmender) Luftalarm mehr gegeben. So wurde die Bevölkerung Hiroshimas vollkommen von der alles zerstörenden Wucht einer Explosion überrascht, verbunden mit einer Hitzestrahlung, die nahe dem Explosionszentrum Menschen restlos verdampfen ließ, gefolgt von einer lang anhaltenden Radioaktivität, die noch bis heute die Todesursache vieler Tausend Menschen ist. Die Welt sah (und sollte sehen) dass die USA gewillt waren, diese neue Waffe auch einzusetzen.
Das Thema des Missbrauchs wissenschaftlicher Erkenntnisse ließ meinen (wissenschaftlich schon immer sehr interessierten) Vater nicht mehr los. Er wollte die Geschichte über den Wettlauf um den Besitz einer menschheitsgefährdenden Waffe schreiben und hatte dafür Kontakt mit dem Mitteldeutschen Verlag aufgenommen. Eine von diesem Verlag organisierte Exkursion führte ihn 1966 mit einer Autorengruppe nach Dresden in das Institut des Barons Manfred von Ardenne. Da mein Vater wusste, dass von Ardenne an der Entwicklung der sowjetischen Atombombe beteiligt war (dafür hatte er 1947 den Staatspreis der UdSSR und 1953 den Stalinpreis erhalten) nahm er die Gelegenheit wahr, ihn nach dem Stellenwert seines Anteils zu fragen.
Zu seiner Verblüffung ging der sonst äußerst selbstbewusste Baron gar nicht darauf ein, sondern erklärte lediglich, dass nicht weit entfernt von seinem Institut in Rossendorf, im dort errichteten Zentralinstitut für Kernforschung (ZfK), ein bescheidener und schweigsamer Mann arbeitet, von dem die Welt endlich erfahren müsste, dass ihm die Verhinderung eines dritten Weltkrieges zu verdanken sei: Professor Dr. habil. Klaus Fuchs.
Bevor mein Vater den Versuch unternahm, mit Klaus Fuchs in Kontakt zu treten, wollte er sich Klarheit darüber verschaffen, ob es die konkrete Gefahr eines dritten Weltkriegs tatsächlich gegeben hatte. Heute wissen wir, dass es sogar mehrere Situationen in den heißen Zeiten des kalten Krieges gegeben hat und dass es nur der Courage einzelner Menschen zu verdanken war, dass es nicht zu einem atomaren Over-Kill kam. Doch damals gab es darüber noch so gut wie keine Informationen.
In der Deutschen Bücherei in Leipzig erhielt mein Vater eines Tages die Möglichkeit, in einigen Ausgaben des amerikanischen Harpers Magazin zu blättern. Hier fand er (nach dem Ablauf der üblichen Sperrzeit für brisante Dokumente) jenes Szenario veröffentlicht, dass kurz zuvor noch ein Staatsgeheimnis der USA war. Danach hatten sich die geopolitischen Strategen des Weißen Hauses und des Pentagon schon ganz zu Beginn des „Kalten Krieges“ von den führenden US-Physikern des „Manhattan-Project“ (den wissenschaftlichen „Vätern“ der US-amerikanischen Atombombe) errechnen lassen, wann die UdSSR unter Aufbietung aller Kräfte frühestens in der Lage wäre, eine eigene Atomwaffe zu entwickeln. Die Prognose der US-Wissenschaftler lautete: Nicht vor 1953. Also wurde beschlossen, die Möglichkeiten für einen atomaren Erstschlag gegen die Sowjetunion zu schaffen und abzusichern. Dafür mussten bis 1953 drei Voraussetzungen erfüllt sein:
1.) Ein Ring von gesicherten Luftstützpunkten rings um die UdSSR.
2.) Eineial bestimmte Anzahl von atombombentragenden Langstreckenflugzeugen.
3.) Eine bestimmte Anzahl von Atombomben.
Die Anzahl von Flugzeugen und Atombomben sollte dabei so groß sein, dass selbst bei einem Verlust von zwei Dritteln der zeitgleich angreifenden Flugzeuge noch vor dem Erreichen ihrer Ziele das restliche Drittel ausreichen würde, um die Sowjetunion durch einen atomaren Enthauptungsschlag zu paralysieren. Nach diesen Parametern erfolgte der rasche Aufbau eines „Strategic Air Command“ mit modernsten Langstreckenbombern, stationiert auf einem militärisch gesicherten Ring aus Flugstützpunkten, sowie der Ausbau der Produktionskapazitäten für die errechnete Zahl der benötigten Atombomben.
Doch dann wurde schon weit vor dem Jahr 1953 in der UdSSR (im August 1949) eine erste Atombombe getestet. Sie ließ den Plan eines atomaren Erstschlags zur Makulatur werden und löste vor allem in den USA eine hysterische Suche nach den Lücken in der Geheimhaltung aus. Diese Suche führte ein Jahr später zu Klaus Fuchs. Fortan war er für die einen ein Verräter, für andere ein Held und Lebensretter.
Wer war dieser Mann und wie wurde er zu einem so verdienstvollen Verräter?