Neoliberalismus-(01)

Die neoliberale Indoktrination

Der Neoliberalismus ist als Gesellschaftsideologie ein Phänomen. Nicht nur macht er den Armen und Schwachen weis, sie wären an ihrem Elend selbst schuld. Er schafft es auch, dafür zu sorgen, dass das wahre Ausmaß der gesellschaftlichen Armut kaum je an die Öffentlichkeit dringt; dass das Gesundheitssystem trotz immer höherer Ausgaben immer inhumaner wird; dass die soziale Arbeit erodiert und kaum jemand etwas hiergegen unternimmt; dass mittels Stiftungen ein regelrechter „Refeudalisierungsboom“ im Lande tobt und Investoren inzwischen auf die Privatisierung des öffentlichen Bildungssystems abzielen. Zur Frage, wie den Menschen mittels geeigneter Psychotechniken der Geist vernebelt wird, um Widerstand gegen diese unmenschliche Ideologie weitestgehend unmöglich zu machen, sprach ich mit dem Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld.

Herr Mausfeld, Sie haben als Wahrnehmungs- und Kognitionsforscher vor Kurzem unerwartet so etwas wie ein wenig Berühmtheit erlangt, als ein Vortrag von Ihnen zur Frage „Warum schweigen die Lämmer?“ auf YouTube plötzlich auf immense Nachfrage stieß. Fast 200.000 Menschen haben ihn inzwischen gesehen und es werden nach wie vor mehr. Wie erklären Sie sich die immense Nachfrage nach ihm?

Die Resonanz hat mich überrascht. Denn in der Form ist der Vortrag recht trocken und bisweilen auch akademisch. Inhaltlich versuche ich lediglich, einige Fakten aus einer bestimmten Perspektive in eine innere geistige Ordnung zu bringen. Vielleicht wird dies ja als hilfreich empfunden, da in der Flut fragmentierter Informationen, mit der wir gerade im gesellschaftlich-politischen Bereich konfrontiert sind, die Sinnzusammenhänge mehr und mehr verlorengehen und uns dadurch die Möglichkeit zu einer eigenständigen Meinungsbildung erschwert oder gar genommen wird.

Wie kam es denn zu diesem Vortrag?

Der Vortrag, der einige Themen aufgreift, die ich auch in Veranstaltungen des Psychologiestudiums anspreche, war nur für einen kleinen Kreis von Studenten und Freunden gedacht. Thematisch gehört der Vortrag ja nicht zu meinem Arbeitsbereich, der Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung. Die Gemeinsamkeiten meines Arbeitsbereichs und des gesellschaftspolitischen Themas des Vortrags liegen auch weniger auf einer inhaltlichen als auf einer denkmethodologischen Ebene. Denn in der Grundlagenforschung wie im Bereich des Gesellschaftlich-Politischen können wir uns nur dann ein Stück Autonomie gegenüber dem jeweiligen Zeitgeist bewahren, wenn wir bei jedem Thema zunächst fragen, aus welchem ideengeschichtlichen und historisch-gesellschaftlichen Hintergrund es sich entwickelt hat und welche stillschweigenden Prämissen und welche verborgenen Vorurteile bereits in der Formulierung eines Themas oder einer Frage enthalten sind. Zu einem solchen “Hinterfragen“ sind wir alle von Natur aus befähigt, man muss sich nur entschließen, von dieser Befähigung auch Gebrauch zu machen – das war ja gerade die Leitidee der Aufklärung. Das ist oft mühsam und bedarf der Übung, doch empfinden wir häufig ein Gefühl der Befriedigung, wenn wir den Sinnzusammenhang der Dinge besser verstehen.

Und Übung braucht übrigens auch wieder Zeit, wodurch verständlich wird, warum es bezüglich der Fähigkeiten, Lügen und Manipulationen zu durchschauen, große gesellschaftliche Disparitäten gibt…

Genau. Gerade in dieser Hinsicht haben Wissenschaftler eine besondere gesellschaftliche Verpflichtung. Sie sind geübt in der Beschaffung von Informationen und im Umgang mit Informationen. Sie verstehen zumeist, ihr Wissen in Rede und Schrift zu vermitteln. Und sie sind, oder sollten eigentlich, schon aus beruflichem Ethos der Wahrheit gegenüber verpflichtet sein. Daraus ergibt sich eine gesellschaftliche Verantwortung, sich nicht zu scheuen, sich nötigenfalls auch mit der Macht und den ihr dienenden Ideologien anzulegen. Die Realität sieht leider anders aus. Das liegt natürlich auch – nicht nur an den Universitäten – an den Karrieremechanismen. Verständlicherweise stoßen gerade im gesellschaftspolitischen Bereich ein Aussprechen der Wahrheit und die Konsequenzen unserer natürlichen Neugierde und Freude an Autonomie nicht bei allen auf Begeisterung. Wenn wir nämlich die Dinge besser verstehen, könnte es ja passieren, dass wir beginnen, Fragen zu stellen, die den Status des jeweiligen Establishments gefährden könnten. Daher hat in jeder Gesellschaft und in jedem Bereich einer Gesellschaft das Establishment ein Interesse daran, dass Ausbildungsinstitutionen und Medien die Möglichkeiten eines Erkennens von Sinnzusammenhängen in geeigneten Grenzen halten. Fragmentierung – ob durch bildungsbürgerliches Wissen, durch eine PISA-orientierte Schulausbildung, durch ein „kompetenzorientiertes“ Studium oder durch Medien – ist also in diesem Sinne keineswegs Zufall, sondern ein beabsichtigter Prozess, eine Art Herrschaftsinstrument.

Hat die Bologna-Reform an den Hochschulen dieses Problem womöglich noch weiter verschärft? Ich hatte vor einigen Jahren einmal auf den NachDenkSeiten argumentiert, die aktuellen Reformen seien wohl selbst als Herrschaftsinstrument beziehungs- weise Etablierung neuer Herrschaftsmechanismen im Bildungsbereich zu verstehen…

Ja, das hat sie, und zwar in einem Umfang und mit einer Systematik, wie wohl kein anderes Ereignis in der Geschichte der Bildung und Ausbildung. Im Gefolge der neoliberalen “Revolution von oben“ wurde auch das gesamte Bildungssystem ökonomischen Kategorien unterworfen. Die Aufgabe der Universität besteht nun in der marktkonformen Produktion von “Humankapital“.

Dazu korrespondierend besteht die Aufgabe der Studierenden darin, ihre “Fremdverwertbarkeitskompetenz“ zu optimieren, um so flexibel auf dem Arbeitsmarkt verwertbar zu sein. Die Verinnerlichung einer solchen Haltung und die Unterwerfung unter sie werden dann als “Selbstverwirklichung“ bezeichnet. Eine solche Pervertierung der Idee einer Entfaltung eigener Neigungen und Fähigkeiten führt zwangsläufig zu geistiger und psychischer Fragmentierung der Studierenden und auch zu großen Zukunftsängsten. Beides beeinträchtigt aus naheliegenden Gründen die Möglichkeit und die Bereitschaft, Dinge zu hinterfragen und führt zu Entpolitisierung, ja, politischer Lethargie…

Das Gefühl von politischer Ohnmacht, oft verbunden mit latenter Verzweiflung oder gar Wut, scheint allerdings nicht nur unter Studierenden weit verbreitet zu sein, sondern aktuell geradezu zu grassieren; in fast jedem Milieu…

Ja, und das ist auch kein Wunder. Denn das Ausbildungssystem ist nur ein Aspekt der sehr viel weitreichenderen und tiefergehenden    aktuellen Indoktrinationssysteme. Da diese im Wortsinne inhuman sind, also Zielen dienen, die der Natur unseres Geistes und somit der Natur des Menschen zuwiderlaufen, gehen sie fast zwangsläufig mit gewaltigen psychischen Folgekosten einher.

Diese Indoktrinationssysteme könnte man als neoliberale Indoktrinationssysteme bezeichnen. Der Neoliberalismus zielt ja gerade darauf, Konsumenten zu produzieren, die in einer sozial atomisierten Gesellschaft nur noch als Konsumenten eine soziale Identität finden. 

Im pervertierten Freiheitsbegriff des Neoliberalismus bezieht sich die “Freiheit“ einer Person darauf, dass sie sich den Kräften des “freien Marktes“ zu unterwerfen hat, also von allen gesellschaftlichen und sozialen Banden “befreit“ und somit sozial und gesellschaftlich entwurzelt ist. Scheitert sie auf dem “Markt“, so darf sie dafür nicht gesellschaftliche Verhältnisse verantwortlich machen, sondern muss dies ihrem individuellen Versagen zuschreiben. Eine solche Haltung kann sie jedoch nur um den Preis psychischer Deformationen, insbesondere sozialer Ängste und Depressionen, einnehmen. Durch entsprechende Indoktrinationssysteme kann man Menschen auch ohne Knebel zum Schweigen und zum Verstummen bringen, sie ihrer “gesunden“ Gegenwehr gegen krankmachende Verhältnisse weitestgehend berauben.

Wie es der gute Bert Brecht einmal sagte: „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stechen, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Suizid treiben, einen in den Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten“…

Nicht nur das. Man kann einen Menschen auch auf verschiedene Arten beeinflussen, ängstigen, manipulieren, verschrecken und dazu bringen, sich Einflüssen zu unterwerfen, die seinen vitalen Interessen diametral entgegenstehen. Nur, dass das eben nicht folgenlos bleibt.

Es wurde ja schon früher aufgezeigt, dass der Kapitalismus ein besonders hohes Maß psychischer Störungen mit sich bringt. Für die Gegenwart haben Richard Wilkinson und Kate Pickett dies in ihrem Buch Gleichheit ist Glück noch einmal akribisch anhand einer Fülle quantitativer Daten aufgezeigt.

Gesellschaftlich verursachte Störungen wendet der Neoliberalismus nun aber perverserweise gegen das Individuum selbst, das nun dem Zwang unterworfen wird, sich durch geeignete Maßnahmen selbst besser fremdverwertbar zu “gestalten“. Das gilt für jede Art von Verhalten, das unverträglich mit der gewünschten Rolle eines Konsumenten ist.

Daher finden wir mit wachsendem Einfluss neoliberalen Denkens auch eine zunehmende Tendenz zu Disziplinierungsinstrumenten, etwa eine Tendenz zum “therapeutischen Staat“ und auch ein Anwachsen einer privaten Gefängnisindustrie. Unter allen Nationen weltweit sitzt in den USA der höchste prozentuale Anteil der Bevölkerung im Gefängnis. Die US-Bevölkerung macht 4,4 Prozent der Weltbevölkerung aus, stellt jedoch 22 Prozent aller Gefangenen weltweit.

Da der Neoliberalismus nur in dem Maße wirkmächtig sein kann, wie es ihm gelingt, Menschen ihren eigenen Interessen und ihren sozialen Zugehörigkeiten zu entfremden, benötigt er geeignete Disziplinierungsinstrumente, um die psychischen und sozialen Folgen dieser Entfremdung unter Kontrolle zu halten.

Lassen Sie uns kurz zu den Kategorien Ihrer und unserer Kritik sprechen. Was genau verstehen Sie denn eigentlich unter „Neoliberalismus“? Was meint, was beschreibt das für Sie?

Neoliberales Denken entstammt vielen und sehr heterogenen Quellen. Als eine einheitliche ökonomisch-gesellschaftliche Konzeption gibt es “den“ Neoliberalismus nicht. Es gibt jedoch den politisch organisierten und wirkmächtigen Neoliberalismus, also den real existierenden Neoliberalismus.

Dessen ideologische Konzeption lässt sich relativ leicht als das charakterisieren, was von den Eliten in den Medien – unterstützt durch propagandistische Think Tanks wie die Bertelsmann-Stiftung, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, das Institut der deutschen Wirtschaft und andere – und durch die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten verbreitet wird. Die Codewörter hierfür sind hinreichend bekannt; typische Beispiele für den neoliberalen „Neusprech“ sind: „Liberalisierung“, „Reformen weiter treiben“, „Bürokratie abbauen“ oder „Austerität“.

Dieser Ideologie sucht man einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben durch geeignete „ökonomische Theorien“, wie sie in den Seminarräumen wirtschaftswissenschaftlicher Fakultäten dargeboten werden. Diese Theorien beruhen aber auf theoretischen Absurditäten, auf Gebilden einer letztlich durch Umverteilungsbedürfnisse getriebenen intellektuellen Phantasie. Nämlich der Phantasie eines sich rational selbstregulierenden, “freien Marktes“, auf dem das Fiktionswesen Homo oeconomicus agiert – also der rationale und nutzenmaximierende Mensch, der über Kenntnisse aller denkbaren Entscheidungsoptionen verfügt und zugleich alle Konsequenzen seines Handelns überschauen kann.

Da die fundamentale Unangemessenheit einer solchen Konzeption des menschlichen Geistes für jeden, dessen Blick nicht ideologisch getrübt ist, sofort erkennbar ist, deklariert man diese Konzeption als ein idealisiertes mathematisches Modell, das dann den Vorteil hat, alle offenkundigen Diskrepanzen zur Realität mit der Geschmeidigkeit scholastischer Denkgebäude durch geeignete Zusatzannahmen in sich aufnehmen zu können.

Als ökonomische Theorie weist der Neoliberalismus so viele interne Widersprüche und Inkonsistenzen auf, dass er längst daran hätte zugrunde gehen müssen – er ist eine Art intellektueller Pathologie. Das wurde von ökonomischen Experten wieder und wieder aufgezeigt. Jüngst haben Philip Mirowski – in seinem Buch Untote leben länger: Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist – und Wendy Brown – in Die schleichende Revolution: Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört dies noch einmal rekapituliert und aus unterschiedlichen Perspektiven aufbereitet. Aber auch hier wird wohl der Effekt wieder nahe bei Null liegen, denn der Neoliberalismus ist völlig immun gegen Argumente, ihm genügt es, dass er politisch wirkmächtig ist.

Da hat die Wissenschaft, zumindest in diesem Bereich, ja offenbar die Rolle übernommen, die früher von der Kirche ausgeübt wurde: Wissenschaft als Religionsersatz. Im Dienste der jeweils materiell herrschenden Macht und deren ideologischer Legitimation… Können Sie für die genannten Widersprüche denn bitte ein konkretes Beispiel ausführen? Was meinen Sie genau?

Nun, der fundamentale Widerspruch, zumindest im real existierenden Neoliberalismus, ist der zwischen dem in der neoliberalen Rhetorik so vielbesungenen “freien Markt“ und der Tatsache, dass der Neoliberalismus vor nichts eine größere Angst hat als vor einem wirklich freien Markt. Der “freie Markt“ ist nur für die ökonomisch Schwachen, ob Personen oder Staaten, gedacht, während die ökonomisch Starken, insbesondere Großkonzerne, durch staatliche Interventionen vor ebendiesen Kräften zu schützen sind. Der Neoliberalismus benötigt also für seine eigentlichen Ziele, nämlich die einer Umverteilung und beständigen Akkumulation, ganz wesentlich den starken Staat, der die “Marktfreiheit“ in seinem Sinne reguliert.

Ein Beispiel mit gravierenden Folgen sind die Agrarsubventionen. Die USA und die EU subventionieren ihre Landwirtschaft mit etwa 1 Milliarde Dollar pro Tag. Würden die reichen Länder diese Eingriffe in den „freien Markt“ abbauen, könnten die Entwicklungsländer ihre Agrarexporte um mehr als 20 Prozent und das Einkommen der ländlichen Bevölkerung um etwa 60 Milliarden Dollar pro Jahr erhöhen – ein Betrag, der größer ist als die gesamte Entwicklungshilfe der EU. Hinzu kommen Einfuhrbeschränkungen und andere Hürden, durch die die EU und die USA ihre Märkte gegen Importe aus Entwicklungsländern abschotten. Zugleich wird armen Nationen das Recht genommen, ihre Wirtschaft selbst zu gestalten. Die armen Länder müssen sich der „Marktdisziplin“ unterwerfen und ihre Märkte für transnationale Konzerne öffnen, für die sie dann ein Reservoir billiger Arbeitskräfte und Rohmaterialien werden, die reichen Länder betreiben Protektionismus. So sieht die Realität des „freien Marktes“ aus.

In der Tradition neoliberalen Denkens gibt es jedoch auch Varianten, die die Idee des freien Marktes wirklich ernst nehmen und jede Art staatlicher Intervention ablehnen, etwa Murray Rothbard oder in dessen Gefolge Walter Block und Hans-Hermann Hoppe. Diesen neoliberalen Denkern zufolge stellen auch Kinder nur eine Form von Eigentum dar und dürften somit auf dem freien Markt verkauft werden; zudem dürfe der Staat Eltern beispielsweise keine rechtliche Verpflichtung auferlegen, ihr Kind mit Nahrung zu versorgen.

Diese Denksysteme mögen – sieht man einmal von der Beliebigkeit und Absurdität ihrer Prämissen ab – als intellektuelle Übungsaufgabe eine gewisse innere Konsistenz aufweisen. Sie sind insofern lehrreich, als sie die Idee eines durch keine moralischen “Hemmnisse“ begrenzten, radikal freien Marktes zu ihrer logischen, zutiefst inhumanen Konsequenz führen. Nicht einmal die Reichen würden in einer solchen Dystopie einer Gesellschaft leben wollen.

Kurz: Der real existierende Neoliberalismus ist eigentlich seit je intellektuell bankrott. Dennoch ist er – als eine Art “Hausphilosophie“ der Reichen und Großkonzerne – politisch äußerst wirkungsmächtig.

Es gibt Neoliberalismus-Kritiker, wie Jamie Peck, die der Auffassung sind, dass der Neoliberalismus sein Gehirn schon lange verloren hat und sich nur seine Glieder noch reflexartig und zunehmend erratisch über den Globus bewegen. Zwangsläufig müsse er dabei immer autokratischere Züge annehmen.

Es gibt ja mittlerweile in dem globalen neoliberalen Feldexperiment reiche Erfahrungsdaten, die zeigen, dass der Neoliberalismus nicht nur die von ihm deklarierten Ziele – wie etwa Wachstum zu erzeugen oder den allgemeinen Wohlstand zu erhöhen – verfehlt. Besonders in der sogenannten Dritten Welt, und zunehmend auch in Europa, sind seine Folgen offenkundig. Jean Ziegler, der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, stellt dazu fest: „Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen – die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das locker in gut einem Jahr.“

Der Neoliberalismus erzeugt weltweit ein Desaster nach dem anderen. Aus jedem Desaster kommt er jedoch – in scheinbar paradoxer Weise – gestärkt hervor und wird sogleich wieder als “Therapie“ empfohlen. Offensichtlich nährt der Neoliberalismus nicht nur Krisen, sondern er nährt sich geradezu von Krisen und schlägt dabei noch aus seinen inneren Widersprüchen und Inkonsistenzen Kapital. Das wirft interessante Fragen nach seinen eigentlichen Zielen auf.

Da muss ich an David Harvey denken, dessen wunderbare Kleine Geschichte des Neoliberalismus folgender Klappentext ziert: „Längst kritisieren auch bekannte Wirtschaftswissenschaftler wie Joseph Stiglitz, ehemaliger Chefökonom der Weltbank, die ‚Auswüchse‘ des Neoliberalismus und beklagen die wachsende soziale Ungleichheit als dessen unerwünschtes Nebenprodukt. Falsch, sagt David Harvey: Weshalb kommt diesen Leuten denn nie der Gedanke, dass die soziale Ungleichheit womöglich von Anfang an der Zweck der ganzen Übung war‘? Die neoliberale Wende, so Harvey, wurde in den 70er Jahren zu dem alleinigen Zweck eingeleitet, die Klassenmacht einer gesellschaftlichen Elite wiederherzustellen, die befürchtete, dass ihre Privilegien nachhaltig beschnitten werden könnten“…

Das ist genau der entscheidende Punkt. Nur wenn wir uns das klarmachen, können wir die politische Wirksamkeit dieser intellektuell bankrotten Ideologie verstehen. Tatsächlich zielt der Neoliberalismus gar nicht auf “freie Märkte“. Er zielt vielmehr auf eine radikale Umverteilung, und zwar von unten nach oben, von der öffentlichen in die private Hand und von Süd nach Nord.

Um das zu erreichen, muss er die ökonomisch Schwachen, seien es Individuen oder Staaten, ohne jeden Schutz den Kräften des “Marktes“ überlassen und zugleich dafür sorgen, dass den ökonomisch Starken durch einen starken Staat geeignete Rahmenbedingungen für eine Kapitalvermehrung bereitgestellt werden. Der Neoliberalismus, der immer bereit ist, staatliche Interventionen in die Wirtschaft, als 

sozialistisch zu geißeln, ist in Wahrheit eine Art Neoliberalsozialismus, ein Sozialismus für die Reichen nämlich, die er durch staatliche Regelungen vor den Marktkräften zu schützen sucht.

Er ist eine Revolution der Reichen gegen die Armen. Da die Armen aber die Mehrheit bilden, ist natürlich besonders in Demokratien eine solche Revolution mit Risiken behaftet. Es hilft daher außerordentlich, wenn man die Bevölkerung atomisiert, alle sozialen Bewegungen fragmentiert und partikularisiert und zugleich als Nutznießer der Umverteilung ein neues Klassenbewusstsein entwickelt.

Genau dies ist in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich geschehen. Warren Buffets diesbezügliche Bemerkung von 2006 – „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen” – ist dabei nur in der Offenheit, nicht jedoch in der Sache als Ausrutscher zu verstehen. Das Kampflied in diesem Klassenkampf ist die Mär von den Segnungen eines “freien Marktes“, zu dessen Entfaltung alle staatlichen Interventionen abzubauen seien. Der Neoliberalismus würde natürlich bestreiten, dass er ein Krieg der Reichen gegen die Armen ist; und mit Recht könnte er dabei darauf verweisen, dass er ja schließlich ganz unparteiisch Reichtum und Armut gleichermaßen fördert.

Global kontrollieren die 500 größten Konzerne mittlerweile mehr als 50 Prozent des Weltbruttosozialprodukts. Die 85 reichsten Personen der Welt besitzen, wie Oxfam jüngst mitteilte, mehr als die ärmsten 50 Prozent der Weltpopulation zusammen, also als die ärmsten 3,6 Milliarden Menschen auf dieser Welt. Und bald werden die reichsten ein Prozent mehr als die Hälfte des Gesamtreichtums der Welt besitzen. Auch dies ist, so die neoliberale Mär, ein von niemandem absichtlich herbeigeführter, also auch von niemandem zu verantwortender Effekt der rationalen Naturgesetzlichkeiten des “freien Marktes“.

Wer dies kritisiert, bezeugt damit nur sein völliges Unverständnis dessen, was Naturgesetzlichkeiten sind. Denn auch zu denen gibt es ja keine Alternative.

Der Neoliberalismus ist – nach dem europäischen Kolonialismus – das größte globale Umverteilungsprojekt der Geschichte. Da ist kaum überraschend, dass es beträchtlicher Indoktrinations- und Disziplinierungsanstrengungen bedarf, um die Bevölkerung gegen ihre tatsächlichen Erfahrungen und gegen ihre eigenen Interessen dazu zu bringen, dieses Kampflied hinzunehmen und sogar darin einzustimmen.

Bitte führen Sie das doch ein wenig aus. Von welchen „Indoktrinationsmechanismen“ reden wir hier? Was meinen Sie damit?

Nun, in einer Demokratie ist es wichtig, dass das eigentliche Ziel einer Umverteilung von unten nach oben für die Bevölkerung durch eine geeignete Indoktrination verdeckt und unsichtbar gemacht wird. Das ist hier nicht anders als etwa bei hegemonialen und imperiale Interessen, die für die Bevölkerung durch eine Rhetorik von “humanitärer Intervention“ oder “Demokratieförderung“ verdeckt werden.

In Demokratien wäre der Neoliberalismus politisch nicht überlebensfähig, wenn es ihm nicht gelänge, die Köpfe zu erobern und die öffentliche Meinung in seinem Sinne zu formen und zu kontrollieren. Dies kann nur auf der Basis von Indoktrinationssystemen geschehen, die psychologisch äußerst ausgefeilt sind und alle Bereiche unseres Lebens durchziehen.

Die Grundlagen für solche Indoktrinationssysteme werden seit je durch bereitwillige Intellektuelle bereitgestellt, die eher den Interessen der Mächtigen verpflichtet sind als der Wahrheit und die dafür in geeigneter Weise gefördert und belohnt werden. Stiftungen, “Denkfarmen“ oder “Think Tanks“ und NGO’s kommt dabei eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Stiftungen und durch sie geförderte NGO’s haben im Neoliberalismus eine ganz zentrale Bedeutung, weil wirtschaftliche Eliten steuerbegünstigt privaten Reichtum in politische Macht umwandeln können, die sie dann mit dem Anstrich der Gemeinnützigkeit und Philanthropie veredeln.

Wie läuft das ab, welche konkreten „Mechanismen“ gibt es da? Wie manipuliert man uns genau?

Es ist tatsächlich sehr schwer, sich von der Breite und von der Tiefe dieser Indoktrinationssysteme überhaupt eine Vorstellung zu bilden. Die Indoktrinationssysteme, die der Neoliberalismus entwickelt hat, sind die ausgefeiltesten und wirkungsmächtigsten, mit denen je eine politische Ideologie verbreitet wurde. Sie sind inzwischen so tief in allen Bereichen des gesellschaftlichen und auch privaten Lebens verankert, dass sie uns kaum noch auffallen. Sie stellen ganze Lebensformen und Weltsichten dar, wie sie im Wesentlichen durch US-ameri- kanische Eliten geprägt wurden und nicht zuletzt durch die Kultur- und Unterhaltungsindustrie als Selbstverständlichkeiten vermittelt werden. Die klassische Propaganda der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die bereits sehr wirkmächtig war, wirkt gegen diese neoliberalen Indoktrinationssysteme schlicht und geradezu naiv.

Dabei nutzt der Neoliberalismus das ganze Arsenal von Methoden und Strategien, die im Bereich gesellschaftlicher Manipulationstechniken bereits im klassischen Kapitalismus entwickelt worden sind. Also etwa die Möglichkeit, Fehlidentifikationen zu erzeugen, Konsumismus, Meinungsmanipulation durch Medien etc. Doch sind all diese Techniken enorm verfeinert worden und sind zumeist kaum noch als Indoktrinationstechniken erkennbar. Sie sind tief in allen Mechanismen der Herstellung von öffentlicher Meinung verankert – nicht nur in Politik, Medien oder politischen Stiftungen, sondern bis in den Erziehungs- und Kulturbereich. Gute Indoktrination, das war schon den Pionieren der Propaganda klar, darf nicht als solche erkennbar sein und muss geradezu als Selbstverständlichkeit oder Ausdruck des gesunden Menschenverstandes erscheinen.

Können Sie konkrete Beispiele für diese Verfeinerungen nennen?

Das würde in recht technische Bereiche der Psychologie führen. Unabhängig von solchen konkreten Befunden ist es jedoch grundsätzlich wichtig, sich klarzumachen, dass sich in der Operationsweise unseres Geistes eine Vielzahl von kognitiven, affektiven und sozialen Dispositionen findet, die sich für eine Meinungs-, Gefühls- und Verhaltenssteuerung nutzen lassen.

In einem Manipulationskontext kann man sie also als Schwachstellen ansehen, die gleichsam als “Hintertüren“ zu den Mechanismen unseres Geistes wirken, durch die man, ohne dass wir es bemerken, unsere Aufmerksamkeit lenken sowie unser Denken und Fühlen beeinflussen, unsere Empörung auslösen oder auch verstummen lassen kann.

Manipulationstechniken sitzen also gleichsam parasitär auf Schwachstellen unseres Geistes auf. Sie sind dabei stets so beschaffen, dass sie das Scheinwerferlicht unseres Bewusstseins unterlaufen, also von uns praktisch nicht bemerkt werden, so dass es uns auch schwer fällt, uns gegen sie zu schützen.

All das ist in der Wissenschaft – und damit im Effekt auch den herrschenden Eliten – bekannt, kaum jedoch in der Öffentlichkeit. Diese folgenschwere Asymmetrie des Wissens um Manipulationsschwachstellen unseres Geistes muss dringend beseitigt werden. Wir haben nur dann eine Chance, uns gegen derartige Manipulationen zur Wehr zu setzen, wenn wir uns bewusst werden, auf welche unserer Schwach- stellen solche Manipulationen zielen.

Auch wenn das in Summe sicher zu sehr in Details führen würde… Aber können Sie vielleicht ein konkretes Beispiel für eine solche Schwachstelle für Manipulationen, für den Ablauf und die Wirkung derselben, skizzieren?

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die politischen Eliten verstärkt darum bemüht, entsprechende Einsichten und Befunde psychologischer Forschung für ihre Zwecke politisch nutzbar zu machen, indem man „sanfte“ Herrschaftstechniken zu entwickeln sucht, mit denen man Menschen gleichsam einen „Schubs“ in die gewünschte Richtung geben kann.

Ich will versuchen, ein Beispiel zu nennen, das sich im Kern relativ einfach beschreiben lässt, nämlich unsere natürliche Disposition zu Verzerrungen unserer Urteile über die jeweils gegebene gesellschaftliche Situation. Diese Verzerrungen werden in der wissenschaftlichen Literatur als „status quo bias“ bezeichnet. Sie sind in der Psychologie gut untersucht, sind von hoher gesellschaftlicher Relevanz und lassen sich über eine Reihe von Variablen modifizieren und steuern, also manipulieren. Sie beziehen sich auf unsere natürliche Neigung, den jeweiligen Zustand der Gesellschaft, in der wir leben, als gut, gerecht, moralisch legitim, erstrebenswert usw. anzusehen.

Wir neigen dazu, den gesellschaftlichen Status quo allen Alternativen vorzuziehen, und zwar auch dann, wenn diese objektiv besser sind. 

Wir sind unserer Natur nach Anhänger des Status quo. Das gilt natürlich nicht für jede einzelne Person, doch ist es in der Tendenz ein stabiles Phänomen, das sich in allen Gesellschaften nachweisen lässt. Eine solche psychische Disposition ist in der Regel – und solange sie nicht von außen manipuliert wird – eine durchaus wünschenswerte Eigenschaft für die Organisation unseres Zusammenlebens. Sie geht, wie viele psychologische Studien gezeigt haben, mit weiteren psychologischen Tendenzen einher, die ebenfalls hohe gesellschaftliche Relevanz haben. Beispielsweise sind wir immer bereit, die Nachteile des Status quo kleinzureden und Geschichten zu erfinden, die seine Nachteile in einem günstigeren Licht erscheinen lassen. Damit einhergehend haben wir eine Neigung, den gesellschaftlichen Opfern des Status quo selbst die Schuld für ihre Situation zu geben. Zugleich neigen wir dazu, diejenigen eher negativ einzuschätzen, die den Status quo verändern wollen.

Wie stark diese Neigung zur Verteidigung des Status quo ausgeprägt ist, hängt von einer Vielzahl von kognitiven, affektiven und sozialen Variablen ab. Beispielsweise wird sie erhöht durch Ängste und das Gefühl von Unsicherheit und Bedrohung. Ebenso wird sie erhöht, wenn man von einem bewussten Nachdenken systematisch abgelenkt wird – sei es durch Zeitdruck oder Darbietung irrelevanter Themen – oder wenn stereotype und schlichte Begrifflichkeit für eine kognitive Einordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse vorgegeben wird. Ebenso erhöht sich tendenziell diese Neigung, wenn eine Situation als unausweichlich empfunden wird. All diese Variablen lassen sich relativ einfach von außen manipulieren, ohne dass uns diese Manipulationen überhaupt bewusst werden. Dadurch bieten derartige Variablen ein sehr wirkungsvolles Einfallstor, um die Status quo-Neigung der Bevölkerung im gewünschten Sinne zu manipulieren.

In dieser Hinsicht bietet der Neoliberalismus eine für seine Ziele sehr vorteilhafte Kombination derartiger Einflussvariablen: Kognitiv basiert er auf einer sehr schlichten Begrifflichkeit – „Märkte öffnen“, „Strukturreformen durchführen, „Bürokratie abbauen“ etc. – und nutzt zugleich eine geradezu überwältigende Fülle von Möglichkeiten, durch die sich Personen von einem tieferen Nachdenken über gesellschaftliche Verhältnisse ablenken lassen. Die meisten Themen in den Massenmedien dienen genau hierzu. Und affektiv geht er einher mit einem durch die Lebensverhältnisse bedingten hohen Maß an Zeitdruck, Stress und sozialen Ängsten sowie mit einem Gefühl der Unausweichlichkeit; denn 

in seiner Naturgewalten-Metaphorik kann es natürlich zu den „Naturgesetzlichkeiten“ des Marktes keine Alternativen geben. Diese Determinanten lassen sich, wenn man in die Details einzelner Variablen geht, noch sehr viel feiner gestalten und ihre Effekte optimieren. Über all dies lassen sich die nachteiligen gesellschaftlichen Folgen des Status quo kognitiv „unsichtbar machen“, sodass der Status quo stabilisiert wird und das Bedürfnis nach Alternativen verkümmert.

Und welche Rolle spielen denn die Medien im Kontext dieser Indoktrination?

Naheliegenderweise eine ganz zentrale. Sie sind im Wortsinne das Medium der Indoktrination. Das ist wieder und wieder in aller Breite und Tiefe untersucht werden. Noam Chomsky hat ja bei der Beschreibung und Analyse von Indoktrinationssystemen und der Rolle der Medien Pionierarbeit geleistet. Die Leitmedien sind wiederum personell wie ideologisch eng mit Think Tanks, Stiftungen und “relevanten“ politischen und ökonomischen Kreisen verbunden, so dass sich das neoliberale Indoktrinationssystem gleichsam durch sich selbst stabilisiert.

Die neoliberale Indoktrination wird ja dadurch erleichtert, dass der real existierende Neoliberalismus eine besonders radikale Möglichkeit einer Komplexitätsreduktion anbietet. Man kann sich sein Mantra ideologisch rasch aneignen. Wenn man erst den neoliberalen Jargon beherrscht – “Bürokratie abbauen“, „Reformen weitertreiben“ etc. -, benötigt man für eine hohe Meinungskonfidenz keinen besonderen ökonomischen Sach- verstand mehr. Das macht den real existierenden Neoliberalismus für Journalisten und andere aus dem meinungsbildenden Gewerbe so attraktiv. Mit ihm kann man sich in gleichsam vorauseilendem Opportunismus den Herrschenden andienen und so zumindest symbolisch ein Stückchen an der Macht partizipieren.

Dieser Opportunismus ist vorauseilend, weil er nicht nur konkret geäußerte Erwartungen der herrschenden Eliten erfüllt, sondern sich zudem vorstellt, welche Erwartungen die Eliten darüber hinaus noch haben könnten. Er sucht also zu erfühlen und auszuformulieren, was die herrschenden Eliten eher instinktiv fühlen als denken.

Wenn diese Indoktrinationsmechanismen so wirkungsvoll sind und so gut in allen meinungsbildenden Institutionen verankert sind, müssten doch eigentlich offen autoritäre Strukturen überflüssig sein. Warum wird dann immer wieder davor gewarnt, dass der Neoliberalismus zu einer offen autoritären Herrschaftsform zu werden droht?

Die Warnung ist berechtigt, denn eine solche Gefahr ergibt sich zwangs- läufig aus dem Wesen und den Zielen des Neoliberalismus. Solange er jedoch seine Ziele innerhalb von Strukturen erreichen kann, die formal als demokratisch angesehen werden können, also innerhalb einer „marktkonformen Demokratie“, ist dies günstiger. Und innerhalb dieses Rahmens gibt es noch viel Spielraum bei der Entwicklung verdeckt autoritärer Strukturen.

Besonders wirksam ist dabei eine über undemokratische Mechanismen erfolgte Verrechtlichung von Umverteilungsmechanismen. Das Recht ist ja seit je ein sehr wirkungsvolles Instrument, um gesellschaftliches Unrecht gegen eine Kritik durch die Bevölkerung zu immunisieren. Schon der europäische Kolonialismus hat mit einem Kolonialrecht seine genozidalen Formen der Umverteilung verrechtlicht.

Der Neoliberalismus ist, will er auf den demokratischen Anschein nicht verzichten, also geradezu darauf angewiesen, dass die Umverteilungsmechanismen von unten nach oben und von der öffentlichen in die private Hand auf allen Ebenen – von der EU bis zu den Kommunen – zunehmend verrechtlicht werden. Besonders die Schaffung eines geeigneten internationalen Rechts ist dabei erfolgversprechend. Daher bemüht sich eine transatlantische Nomenklatura um die Entwicklung geeigneter internationaler Rechtsnormen wie eben TTIP, TISA, CETA etc. und um deren Umsetzung durch machtvolle neoliberale Institutionen wie den IWF.

Eine Verrechtlichung von gesellschaftlichem Unrecht muss, aus naheliegenden Gründen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, auch der parlamentarischen, erfolgen und jeder Art von demokratischer Kontrolle ent- zogen sein. Zusätzlich zu einer Verrechtlichung schafft der Neoliberalismus Mechanismen, durch die sich die von ihm geschützten Marktteilnehmer, also vor allem die Großkonzerne, bestehenden Rechtsnormen entziehen können. Die Maxime “too big to fail“ hat ja einen tieferen Kern. Nämlich, dass es Verbrechen gibt, deren Wurzeln zu tief mit Grundlagen unserer herrschenden Ordnung verwoben sind und die zu monströs sind, als dass sie innerhalb der jeweiligen Rechtsordnung überhaupt justitiabel sein könnten. Daher gilt die sogenannte Finanzkrise eben als “Krise“ und nicht als das, was sie tatsächlich ist, nämlich im Wortsinne ein „Kapitalverbrechen“.

Es ist also möglich, den Anschein autokratischer Strukturen dadurch zu vermeiden, dass die Ergebnisse der schleichenden Erosion demokratischer Strukturen in geeigneter Weise so verrechtlicht werden, dass die formale Hülse einer Demokratie für die Bevölkerung intakt erscheint. Diese Art von “sanfter“ und vordergründig demokratisch legitimierter Autokratie des Kapitals schwebt neoliberalen Denkern vermutlich als ideale Form einer gesellschaftlichen “Konfliktlösung“ vor. Die Verrechtlichung neoliberaler Strukturen stellt also eine Art Samthandschuh unter den Herrschaftstechniken dar, durch den sich offen autokratische Formen erst ein- mal vermeiden lassen.

Das beantwortet aber noch nicht die Frage, warum viele die Sorge haben, dass der Neoliberalismus eine offen autoritäre Form annehmen, also zur eisernen Faust werden könnte.

Das ist richtig. Zunächst zeigt uns ja die Geschichte, von Chile bis Griechenland, dass der Neoliberalismus, wenn alle “sanften“ Indoktrinations- und Disziplinierungsmechanismen nicht greifen, auch vor autoritären Maßnahmen nicht zurückschreckt. Sein erstes Feldexperiment war schließlich Chile unter Pinochet.

Angesichts der brutalen gesellschaftlichen Folgen des Umverteilungsprozesses muss der Neoliberalismus Reaktionen der Bevölkerung erwarten, die zur Sicherung seiner Stabilität offen autoritäre Maßnahmen erforderlich machen könnten. Er ist also darauf angewiesen, die Verfolgung seiner Ziele durch die Entwicklung geeigneter Disziplinierungsinstrumente bis hin zum Aufbau eines autoritären Sicherheitsstaates zu flankieren. Dazu bedient er sich gerne jeder Art von Bedrohungsszenarien, um in der Bevölkerung die Bereitschaft zu erhöhen, demokratische Substanz abzuschaffen.

Die Fundamente für einen autoritären Sicherheitsstaat werden ja bereits geschaffen, rechtlich wie auch technisch durch den Überwachungsapparat, durch die Vorbereitung eines Bundeswehreinsatzes im Innern, durch das Schleifen der strikten Trennung der Aufgaben von Polizei, Militär und Geheimdiensten, durch die hartnäckigen Vorbereitungsarbeiten namhafter Verfassungs- und Strafrechtler an einem “Feindstrafrecht“ etc. pp.

Renommierte Verfassungs- und Strafrechtler arbeiten bereits seit Langem an den Grundlagen eines Sicherheitsstaates und der Entwicklung eines Feindstrafrechtes. Mit einem solchen Feindstrafrecht können dann Bürger, die als „unsichere Kantonisten“ und als „aktuelle Unpersonen“ anzu- sehen sind, „kaltgestellt“ werden. Zudem soll in besonderen Situationen zur Gefahrenabwehr auch eine „Rettungsfolter“ erlaubt sein.

Prominenter Befürworter der Entwicklung eines Feindstrafrechtes ist der Verfassungsrechtler Otto Depenheuer, der auch Ideenlieferant für Wolfgang Schäuble ist. Es ist aufschlussreich und nicht zufällig, dass wir sowohl in der Geschichte des Neoliberalismus wie auch in der des autoritären Sicherheitsstaates immer wieder auf die Einflüsse von Carl Schmitt, des „Kronjuristen des Dritten Reiches“, stoßen, so auch hier, bei Depenheuer.

In der Person von Wolfgang Schäuble laufen die beiden Stränge “Neoliberalismus“ und “Sicherheitsstaat“ dann in klar erkennbarer Weise zusammen. Die rechtlichen Hülsen sind also vorbereitet; sie lassen sich leicht nutzen, wenn die herrschenden Eliten einmal der Auffassung sein sollten, dass bestehende demokratische Strukturen den “Notwendigkeiten“ des Marktes und den zu seiner Sicherung nötigen internationalen “Vereinheitlichungen“ im Wege stehen.

Und wie können wir dem etwas entgegensetzen? Was ist gegen eine solche Entwicklung zu tun?

Abgesehen von einigen Selbstverständlichkeiten kann es, denke ich, darauf keine einfachen Antworten geben. Die Selbstverständlichkeiten beziehen sich vor allem darauf, dass wir alle Blockaden entfernen müssen, die uns darin hindern, einfache, grundlegende Fakten zu erkennen und anzuerkennen. Sodann müssen wir bereit sein, unseren Willen und unsere Entschlossenheit zu artikulieren, inhumane gesellschaftliche Zustände und Strukturen zu ändern.

Das sind, wie gesagt, eigentlich Selbstverständlichkeiten, doch wäre schon viel erreicht, wenn sie beachtet würden. Eine darüber hinausgehende, allgemeine Antwort zu Methoden und Zielen kann es nach meiner Überzeugung nicht geben. Das ist ein Prozess, in dem im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Situation Antworten gleichsam von unten gefunden werden müssen. Wie immer diese Antworten aussehen mögen: Sie haben keine Chance, politisch wirkmächtig zu werden, wenn es nicht gelingt, die tiefgehende Fragmentierung sozialer Beziehungen zu überwinden und eine gemeinsame Basis für einen politisch kraftvollen Zusammenschluss sozialer Bewegungen zu finden.

Für diese Aufgabe bleibt uns wohl nicht mehr viel Zeit. Die alte Strategie, die gewaltigen sozialen und ökologischen Folgekosten des Kapitalismus, besonders seiner neoliberalen Extremform, späteren Generationen aufzubürden, kommt an ihre natürlichen Grenzen. Es bleiben uns wohl nur zwei Möglichkeiten: Wir befreien uns, so mühsam es sein wird, aus den Fesseln neoliberaler Indoktrinationssysteme, stellen uns den Fakten und suchen gemeinsam nach Möglichkeiten von Änderungen – die freilich angesichts des ökologischen Zeitdrucks nur radikal sein können. Oder wir machen weiter wie bisher, schweigen und überlassen es nachfolgenden Generationen über die Gründe unseres Nicht-Handels und unseres Schweigens nachzudenken.

Noch ein letztes Wort?

Ja, eine Gefahr für diesen Prozess, Empörung und Unbehagen über gesellschaftliche Verhältnisse in politisch wirksamer Weise Ausdruck zu verleihen, möchte ich noch ansprechen. Nämlich die Gefahr, sie dadurch politisch weitgehend wirkungslos zu machen, dass sie sich nicht auf strukturelle Aspekte, sondern allein auf “die da oben“, also auf personelle Aspekte richten.

Bei gesellschaftlichen und politischen Themen ist ja die Perspektive weit verbreitet, den Blick auf “die da oben“ zu beschränken und sich darüber zu empören, wie man von diesen betrogen, hintergangen und ausgebeutet wird: “Die da oben“ sind moralisch verkommen, verlogen und schamlos auf ihren Vorteil bedacht, sie sind die Täter; wir hingegen sind nur ihre Opfer. Das ist eine psychologisch nachvollziehbare und politisch durchaus berechtigte Perspektive. Da sie von der überwiegenden Mehrzahl der Bevölkerung in der einen oder anderen Weise geteilt wird, ohne dass sich dies in entsprechender Weise in den Ergebnissen von Wahlen niederschlägt, sollten wir aber darüber nachdenken, ob nicht die politische Wirkungskraft einer solchen Perspektive sehr begrenzt ist.

In jedem Fall geht eine Beschränkung des Blicks auf “die da oben“ vorbei an der Natur des tatsächlichen Problems, um das es geht, nämlich an den strukturellen und institutionellen Ursachen einer zerstörerischen und inhumanen Wirtschafts- und Gesellschaftsform.

Daher ist es aus Sicht der herrschenden Eliten sogar gewollt und erwünscht, dass sich die Bevölkerung über die Gier von Bankern, die Verlogenheit von Politikern, die intellektuelle Korruptheit von Journalisten oder die Grausamkeit oder den Sadismus von Folterexperten ereifert – also über Eigenschaften von Personen, die gerade das Produkt tieferliegender, struktureller Bedingungen sind und in deren Kontext geradezu Qualifikationsmerkmale darstellen – und dabei die strukturellen und institutionellen Ursachen und somit die eigentlichen Zentren der Macht aus dem Blick verliert! Unsere vordringliche Aufgabe ist es daher, Einsichten in diese strukturellen Bedingungen zu gewinnen. Dazu gehört auch, das Wesen und die eigentlichen Ziele des Neoliberalismus zu verstehen. Dann aber müssen wir den Blick auch auf uns richten und uns fragen, warum wir auf ein totalitäres Denksystem mit so zerstörerischen Folgen nicht mit einer angemessenen moralischen Empörung und entsprechenden Handlungskonsequenzen reagieren. Solange die herrschenden Eliten sehr viel mehr Wissen über uns, über unsere natürlichen Bedürfnisse, Neigungen und unsere Schwachstellen für eine Manipulierbarkeit verfügen als wir selbst, solange werden sie über uns eine Form der unsichtbaren Herrschaft ausüben können, gegen die wir uns kaum wehren können. Den Blick auf uns zu richten, bedeutet zugleich zu erkennen – und das ist ganz im Sinne der Aufklärung –, dass wir es sind, die für unser Handeln und Nicht-Handeln und für die Gesellschaft, in der wir leben, verantwortlich sind.

Rainer Mausfeld, geboren 1949, studierte Psychologie, Mathematik und Philosophie in Bonn. Er ist Professor für Allgemeine Psychologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und arbeitet im Bereich der Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung.

Jens Wernicke, Diplom-Kulturwissenschaftler (Medien), arbeitet als Gewerkschaftssekretär und Journalist. Er ist freier Mitarbeiter der NachDenkSeiten – die kritische Website, des Instituts für Medienverantwortung sowie des Swiss Institute for Peace and Energy Research. Zuletzt erschien von ihm Netzwerk der Macht -Der medial-politische Komplex aus Gütersloh im Bertelsmann Verlag. Er bloggt unter: jenswernicke.de.

Dieser Text erschien zuerst (am 18. Januar 2016) auf NachDenkSeiten.de (die kritische Website) – wir bedanken uns für die freundliche Zweitverwertungserlaubnis.