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Unsere ungerechte Gesellschaft

Mir ist schon öfter aufgefallen, dass gesellschaftskritische TV-Reportagen und -Beiträge in den öffentlich-rechtlichen Medien meist im Spätprogramm laufen, häufig sogar erst nach Mitternacht. Ist das Zufall oder Prinzip? Egal, neulich war es mal wieder soweit – und ich blieb (für mich selbst überraschend) mitten in der Nacht bei „Precht“ hängen und staunte: Der spricht dir ja aus der Seele – aber der andere irgendwie auch… Nach Mitternacht diskutierte Deutschlands wohl bekanntester Philosoph, Richard David Precht, mit dem Meinungsforscher Prof. Heinz Bude von der Uni Kassel über unsere ungerechte Gesellschaft – dank Mediathek konnte ich mir das Gespräch dann auch nochmal von Anfang an anschauen.

Viele Menschen haben gegenwärtig Angst um die Zukunft Deutschlands, Sie auch?

Nein, um die Zukunft Deutschlands habe ich, ehrlich gesagt, gar keine Angst. Ich glaube, es gibt eine Reihe von Problemen, und es gibt auch Gründe Angst zu haben – ich will da niemandem die Angst ausreden. Aber wenn Sie mich direkt fragen, dann habe ich keine Angst um die Zukunft Deutschlands und schon gar nicht um die deutsche Gesellschaft und auch nicht um Europa.

Aber Sie meinen, dass es Gründe gibt, Angst zu haben? Diese Gründe würde ich natürlich gerne erfahren…

Ich glaube schon, dass Angst ein ganz großes Thema unserer gegenwärtigen Situation ist. Und wenn man es gesellschaftlich betrachtet, hängt das damit zusammen, dass wir aus einer Gesellschaft kommen, die eher eine Gesellschaft des Versprechens war. Also das Hauptversprechen, dass viele kennen, ist „Aufstieg durch Bildung“. Wenn du dich anstrengst, wenn du nicht ganz blöd bist, dann wirst du einen Platz finden, von dem du im Nachhinein sagen würdest: „Okay, das ist vielleicht nicht das, was ich gewollt habe – aber es ist in Ordnung, wo ich gelandet bin.“

Dieses Grundgefühl haben heute nicht mehr sehr viele – heute ist da eher das Gefühl, dass man etwas bringen muss. Soziologisch würde ich sagen, dahinter steckt die Umstellung von Versprechen auf Drohungen. Wir leben in einer Gesellschaft von feinen Drohungen, die als Drohungen gar nicht so unmittelbar erkennbar sind. Zum Beispiel:

Nutze dein Potenzial!

Versuche, freundlich und locker zu sein!

Sei nicht so angestrengt!

Weil dann, wenn du locker und freundlich und cool und ironisch bist, wirst du in Wettbewerben – wo es drauf ankommt – die anderen hinter dir lassen können. Und ich glaube, diese Situation, dieses Gesetz ist eins, was in unserer Gesellschaft sehr, sehr verbreitet ist.