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Burning Man – Radikales Ritual in der Wüste

Seit Anfang der 90er Jahre zieht es Ende August immer mehr Menschen in die lebensfeindliche Black Rock Wüste in Nevada (USA). Aus dem Nichts entsteht hier die „Black Rock City“ – eine Stadt, in der Kreativität, Vielfalt und das Leben selbst exzessiv gefeiert werden. Nach einer Woche verschwindet das Ganze wie eine Fata Morgana – ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.

1986 zog es den damals unter starkem Liebeskummer leidenden Burning-Man-Begründer Larry Harvey und eine Gruppe von 30 Freunden an den Baker Beach in San Francisco, wo sie zum ersten Mal eine selbstgebaute, zwei Meter hohe Holzfigur verbrannten. 

“Als ‚The Man‘ brannte, kamen Leute aus allen Richtungen angerannt und versammelten sich um das Feuer. In dem Moment, als ich mich so umsah und in die Gesichter der anderen Menschen um mich herum schaute, ihr breites Lächeln sah und wie sich die Flammen in ihren leuchtenden Augen widerspiegelten, da wusste ich instinktiv, dass wir etwas Magisches begonnen hatten” erinnert sich Harvey an diesen schicksalshaften Tag vor über 30 Jahren.

Die Teilnehmerzahlen nahmen von da an jährlich zu – und die Holzfigur wurde mit jeder Veranstaltung größer – bis 1990 das Verbrennen der Statue verboten wurde und man sich gezwungen sah, einen neuen Ort für das Event zu finden. Und wo zieht man hin, wenn es am Strand zu eng wird? 

Natürlich in die Wüste.

Larry Harvey hatte zuvor an einer Veranstaltung in der Black Rock Wüste in der Nähe des Städtchens Gerlach im Nachbarstaat Nevada teilgenommen und zeigte sich schwer beeindruckt von diesem surrealen Ort: “Die unendliche Leere der Wüste – dieser grenzenlose Ozean aus Sand – erfüllte mich mit etwas Einzigartigem, etwas Magischem.”

Am 30. September 1990 lud die Truppe den (mittlerweile 12 Meter hohen) in Einzelteile zerlegten Holzmann auf einen Sattelschlepper und pilgerte in einem Konvoi – bestehend aus Wohnwagen, Wohnmobilen und vielen Autos – in das Black Rock Desert. Man kann sagen, dass dieser Zeitpunkt die eigentliche Geburtsstunde der „Burning Man Kultur“ (wie sie heute existiert) darstellt. Der Umzug von der Stadt in die lebensfeindliche Wüste war eine Pilgerfahrt für die Gemeinschaft, die damals hauptsächlich aus ein paar hundert schrägen Vögeln und Künstlern bestand und diese mit Energie und Zusammenhalt erfüllte. Zum ersten Mal blieben ca. 100 Teilnehmer über mehrere Tage in der Black Rock Wüste, wo eine kleine Stadt aus Wohnwagen und Zelten entstand. Ein kleiner Vorgeschmack auf die Zukunft.

“Im Black Rock Desert haben ’The Man‘ und wir unser wahres Zuhause gefunden. Die Wüste ist ein Ort, in dem gesellschaftliche Normen und Zwänge nicht bestehen. Es ist eine leere Leinwand, auf der durch die rohe Energie von Kreativität und Freiheit alles möglich wird. Ich zog eine Linie in den Sand und sagte zu mir selbst: ‚Hinter dieser Linie wird alles anders sein‘ – und so war es und ist es seitdem” sagt Harvey.

Durch Fernsehberichte und das Internet verbreitete sich die Nachricht von “der größten und verrücktesten Party des Planeten” in den 90er Jahren um die ganze Welt und die Teilnehmerzahlen verdoppelten sich mit jedem neuen Jahr. Was einst mit 30 Leuten angefangen hatte, entwickelte sich zu einem Event mit inzwischen 70.000 Teilnehmern aus allen Teilen der Welt.

„The Man“, Foto: Evan Halleck

Radikales Ritual

Als die Sonne am Sonntag, den 27. August aufgeht, kann ich meine Aufregung kaum mehr im Zaum halten. Nach einem Flug um die halbe Welt, einer fünfstündigen Shopping Tour-de-Force (schliesslich müssen wir eine Woche lang, in der Wüste überleben) und acht Stunden Fahrt von San Francisco in die Black Rock Wüste in Nevada, sind wir endlich an unserem Ziel angekommen. Die Dunkelheit lichtet sich vor meinen Augen und ich sehe weit und breit eine Einöde aus grau-weißer Leere vor mir. Das, und eine Schlange aus Autos, Wohnwagen, Bussen und Wohnmobilen, die ins scheinbare Nichts steuern. In der Ferne zeichnet sich ein Bergkamm ab und ich beginne zu verstehen, was Larry Harvey meinte, als er sagte, die Leere habe ihn mit einem ganz besonderen Gefühl erfüllt.

Das erste Mal habe ich vom Burning Man Festival im Jahr 2000 gehört. Ein Freund hatte mir Bilder auf seinem Laptop von dem “schrägsten und krassesten Festival der Welt” – das er Ende des Sommers besucht hatte – gezeigt. Danach begegnete ich immer wieder ganz verschiedenen Menschen, die mit strahlenden Augen und sehnsuchtsvoller Stimme zutiefst begeistert von diesem einzigartigen Event berichteten. Seit Jahren ganz oben auf meiner Wunschliste, gelang es mir in diesem Jahr endlich selbst, einmal dort hinzufahren.

Eintrittskarten für das Burning Man Festival sind mittlerweile so begehrt, dass die 70.000 Stück an dem Tag, an dem sie per Onlineverkauf erhältlich waren, innerhalb von 30 Minuten ausverkauft waren. Glücklicherweise konnten wir uns in diesem Zeitfenster vier Tickets sichern, ohne die exorbitanten Preise (die von Onlinehändlern teilweise verlangt werden) zahlen zu müssen. Der offizielle Verkaufspreis eines Tickets sind 420 US-Dollar. Es gibt eine limitierte Anzahl von “Early-Bird”-Tickets, die Kosten dann mit 1.200 Dollar aber schon das Dreifache. Wer leer ausgeht und es sich leisten kann, wird bei eBay und Co fündig, dort werden aber unverschämte Wucherpreise von bis zu 2.000 Dollar verlangt. Auch wenn in Black Rock City (fast) alles umsonst ist, ist das Event – vor allem für Leute ausserhalb der Vereinigten Staaten – keine billige Angelegenheit, eher schon ein kostspieliger Urlaub ohne Luxus. Trotzdem ist es uns das Geld und den Aufwand wert.

Nach zwei Stunden in der schleichenden Eintrittsschlange und bei steigenden Temperaturen ist es endlich soweit. Weil wir als sogenannte “Birgins” (Burning Man-Virgins oder “Jungfrauen“) zum ersten Mal hier sind, müssen wir uns im Sand wälzen, einen Gong schlagen und unser Empfangskomitee – das aus sehr freundlichen und erfahrenen „Burnern“ besteht – umarmen, bevor wir das Tor zur Black Rock City passieren dürfen.

Willkommen zu Hause

Black Rock City (BRC) ist als 2/3 Kreis angelegt und breitet sich – in Anspielung auf die Ursprünge des Events “Playa” (span. Strand) genannt – über eine Fläche mit 2.5km Durchmesser aus. “The Man” – der in diesem Jahr von einem Tempel umgeben ist – steht in der Mitte. Am einfachsten ist es, wenn man sich die Ansammlung aus Camps, Musikbühnen, Wohnwagen und Wohnmobilen sowie teilweise haushohen Kunstwerken als ein riesengroßes, spiegelverkehrtes C vorstellt, zwischen dessen Armen “The Man” steht.

Nachdem wir unser Camp gefunden, das Wohnmobil geparkt und die Mitglieder unseres Camps begrüßt haben, packen wir unsere Fahrräder – DAS Fortbewegungsmittel Nr.1 in BRC – aus und machen uns zu einer ersten Erkundungstour auf: Wohin man blickt – überall wird fleißig gewerkelt und aufgebaut, denn BRC lebt von der Beteiligung aller Teilnehmer. Partizipation ist eines der 10 Prinzipien, nach denen man für die kommenden acht Tage und Nächte in der Stadt leben sollte. Doch dazu später mehr. 

Kleine und größere Camps bilden diese Stadt in der Wüste, die sich ganz der Kreativität und dem Spass am Leben verschrieben hat. Das Angebot reicht von 24-Stunden-Party-Camps, die die tanzwütige Menge mit Electro Beats (vor allem basslastiger House und Drum N’Bass) beschallt, über Yoga, Massage- und Meditationskurse, Jonglieren, Theaterworkshops, Kostüm- und Bondage-Partys, Kurse in Nachhaltigkeit und, und, und…

Das Angebot von BRC und die Möglichkeiten Spass zu haben sind grenzenlos. Ich bin erschlagen von der Größe des Ganzen und kämpfe auch etwas mit dem Jetlag. Natürlich hatte ich vorher Bilder und zahlreiche YouTube-Videos gesehen, aber die Realität übersteigt meine Erwartungen nun um ein Vielfaches. Außerdem ist es heiß. Sehr heiß. 45 Grad im Schatten – und der ist hier doch sehr begrenzt.

Wir radeln zurück in unser kleines Basecamp und machen uns daran, unsere Fahrräder für die kommenden Nächte mit vielen bunten LED-Lampen zu bestücken. Wir wollen in der Dunkelheit ja schließlich gut sichtbar sein und nicht von einem Art-Car oder mobilen Soundsystem überrollt werden. Ist alles schon vorgekommen.

Als die Sonne untergeht und die Temperaturen endlich erträglich werden, steigert sich die Energie in BRC nochmal ganz gewaltig. Während der Tag endet, fangen überall um uns herum Leute an, wie ein Wolfsrudel zu heulen und mit der Nacht erwacht auch die Stadt zum Leben. Und wie! So weit man sehen kann, erstrahlt BRC in buntem Licht und lauter Musik. Man muss sich das Ganze als eine Mischung aus gigantischem Club und Rummel in der Größe einer Kleinstadt vorstellen, in der 70.000 Bewohner bunt und aufwendig verkleidet auf hell leuchtenden Fahrrädern zwischen riesengroßen und atemberaubenden Kunstwerken herumfahren, die sich auf dem Areal verteilen – so weit das Auge reicht. Immer wieder kreuzt man dabei den Weg eines aufwendig dekorierten Art-Cars oder mobilen Soundsystems, aus denen meterhohe Flammen oder gigantische Lasergewitter in den Nachthimmel schießen. Ein absoluter Overkill für die Sinne.

John Law, einer der Gründer des Events, sagte einmal über das Burning Man Festival: “Es ist ein Disneyland, das sich über Meilen hinwegzieht und bei dem die Besucher die Attraktionen selbst erschaffen.” 

Was meine Sinne hier erfahren, ist viel besser als Disneyland – es ist die pure Ekstase!

Eins von vielen kreativen Art Cars die über die Playa düsen, Foto: Ralf Graebner

 Die 10 Prinzipien

Die „Burning Man Kultur“ und ihre Teilnehmer (“Burners”) organisieren sich nach den sogenannten 10 Prinzipien, die sich aus der allgemeinen Absicht nach Gemeinschaft, Kreativität, der Entkopplung der Gesellschaft von der Marktwirtschaft und ausgelassenem Feiern ableiten. Zum ersten Mal verkündete Larry Harvey die 10 Prinzipien und ihre genaue Bedeutung beim Burning Man 2004.

Radikale Offenheit 

„Jeder kann Teil von Burning Man sein. Fremde sind willkommen und werden von der Gemeinschaft respektiert. Niemand muss irgendwelche Bedingungen erfüllen, um Teil der Gemeinschaft zu werden.” 

Vorausgesetzt, dass jeder Teilnehmer sich über den Zeitraum des Events selbst versorgen kann, sich an die allgemeinen Verhaltensregeln und bestehenden Gesetze hält und über ein gültiges Ticket verfügt. 

Schenkkultur

“Burning Man pflegt eine Praxis des Schenkens. Die Bedingungslosigkeit macht Schenken so wertvoll. Wer schenkt, denkt nicht darüber nach, ob er etwas zurückbekommt oder Gleichwertiges dagegen eintauschen kann.” 

In den ersten Jahren wurde auch viel getauscht, doch man erkannte schnell die Nachteile und setzt seitdem voll und ganz auf die bedingungslose Praxis des Schenkens. Außer dem Eintritt – über den die gemeinnützige Burning Man Stiftung, die das Event organisiert und einen Großteil der Kunstwerke und Infrastruktur finanziert – zahlt man in Black Rock City für (fast) nichts. (Siehe “Entkopplung von der Marktwirtschaft”). Die zahllosen Camps haben fast alle offene Bars an denen man – solange man einen eigenen Becher mitbringt und über 21 Jahre alt ist – umsonst trinken kann. Viele Teilnehmer verschenken herzliche Umarmungen, ihre Zeit – indem sie hier und da mit anpacken – oder selbstgefertigten Schmuck. Auch hier sind dem Einfallsreichtum keine Grenzen gesetzt.

Entkopplung der Gemeinschaft von der Marktwirtschaft

“Um den Geist des Schenkens zu bewahren, versucht die Gemeinschaft einen sozialen Raum zu schaffen, der frei von Sponsoren, kommerziellen Transaktionen oder Werbung ist. Die Gemeinschaft achtet darauf, die Kultur vor derartiger Ausbeutung zu schützen. Burner weigern sich, teilhabende Erfahrung durch Konsum zu ersetzen.”

Geldtransaktionen sind untersagt, um die Kultur des Schenkens möglich zu machen. Ausgenommen sind u.a. Kaffee und Limonade (die im Café in der Stadtmitte verkauft werden), Eis (dessen Erlös der lokalen Schule von Gerlach zugute kommt), Benzin und Wasser (um Wohnmobile aufzufüllen) und Busfahrten nach Reno und in die umliegenden Orte.

Radikaler Selbstbezug

“Jeder Einzelne ist aufgerufen, die eigenen inneren Ressourcen zu entdecken und auf sie zu vertrauen.” 

Jeder ist für sich selbst verantwortlich und muss für eine Woche auch ohne die Hilfe der Gemeinschaft (auch wenn diese hier sehr hilfsbereit ist) überleben können. Vor allem muss man eine geeignete Unterkunft wie ein Zelt, Wohnwagen oder Wohnmobil, genug Lebensmittel und ausreichend Wasser mitbringen.

Radikaler Selbstausdruck

“Die Möglichkeit, sich selbst auszudrücken, nährt sich aus den einzigartigen Gaben des jeweiligen Individuums. Niemand außer diesem selbst oder einer Gruppe, die miteinander arbeitet, kann bestimmen, was ausgedrückt wird. Und dies wird den Anderen zum Geschenk gemacht. Somit sollten die Gebenden auch die Rechte und Freiheiten der Zuschauenden respektieren.” 

Die Teilnehmer werden ermutigt “ganz sich selbst” bzw. “ihr eigenes, einzigartiges und radikales Selbst” zu entdecken und auszudrücken. Hier sind der Fantasie und dem Mut zur Kreativität keine Grenzen gesetzt und deshalb sieht man in BRC auch so zahlreiche, bunte und aufwendig kostümierte Menschen.

Gemeinschaftliche Anstrengungen

“Die Gemeinschaft schätzt kreative Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung. Es gilt insbesondere soziale Netzwerke, öffentliche Räume, Kunstwerke und Kommunikationsmethoden zu entwickeln, zu stärken und zu schützen, die beides unterstützen.”

Hier ist Mitmachen angesagt und bloßes Zusehen unerwünscht. Es gibt viele Möglichkeiten, beim Burning Man freiwillig zu helfen und gerade in der Auf- und Abbauphase ist jeder gefragt mit anzupacken. 

Verantwortungsbewusstsein

“Burner schätzen die Zivilgesellschaft. Mitglieder, die Veranstaltungen organisieren, sollten Verantwortung für das Wohlergehen aller wahrnehmen und bemüht sein, den Teilnehmenden ihre Verantwortung als Bürgerinnen und Bürger zu vermitteln. Sie müssen auch dafür Sorge tragen, dass die lokale, bundesstaatliche und föderale Gesetzgebung respektiert wird.” 

Auch wenn Burning Man der Idee der temporären und autonomen Zone des Dichters und Anarchisten Hakim Bey entsprungen ist, handelt es sich dabei nicht um eine gesetzfreie Zone, in der alles erlaubt bzw. nicht verboten ist. Öffentlicher Sex z.B. oder der Konsum illegaler Drogen sowie die Abgabe von Alkohol an Minderjährige ist untersagt und kann auch hier bestraft werden. 

Keine Spuren hinterlassen

„Die Gemeinschaft nimmt Rücksicht auf die Umwelt. Sie verpflichtet sich, bei ihren Aktivitäten keine sichtbaren Spuren zu hinterlassen, wo auch immer sie sich versammelt. Man räumt auf bevor man geht und bemüht sich nach Möglichkeit, die Plätze in einem besseren Zustand zurückzulassen, als man sie vorgefunden hat.”

Das Areal rund um den Burning Man wird von einem sogenannten „Trash Fence“ (der jedes Jahr aufs Neue mühsam auf und auch wieder abgebaut wird) umzäunt, um weggewehten Müll aufzufangen. Jeder Teilnehmer ist aufgerufen, so wenig Abfall wie möglich zu verursachen und am Ende des Events komplett mitzunehmen und entsprechend zu entsorgen. Camps und deren Mitglieder, die gegen dieses Prinzip verstossen, werden von zukünftigen Events ausgeschlossen.

Partizipation

“Die Gemeinschaft fühlt sich einer auf radikaler Teilnahme basierenden Ethik verpflichtet. Sie ist überzeugt, dass Veränderung – ob individuell oder gesellschaftlich – nur durch die Beteiligung aller möglich ist. Man erfährt das Sein durch das, was man tut und alle sind eingeladen mitzuarbeiten. Alle sind eingeladen mitzuspielen. Wir erschaffen unsere Welt durch Aktivitäten, die das Herz öffnen.”

Die Einzigartigkeit dieses Events wird dadurch gewährleistet und bewahrt, dass es keine Besucherveranstaltung wie andere Festivals und jeder zur aktiven Teilnahme aufgerufen ist.

Unmittelbarkeit

“Unmittelbare Erfahrung ist, in vielerlei Hinsicht, unser eigentlicher Prüfstein. Wir versuchen Barrieren zu überwinden: Zwischen uns und der Anerkennung unseres inneren Selbst, der Realität um uns herum sowie der Teilhabe an der Gesellschaft. Wir versuchen, in einer Art Kontakt mit der natürlichen Umwelt zu sein, die die menschlichen Kräfte übersteigt. Keine Idee kann diese Erfahrung ersetzen.”

 

Die Kunst

Ohne Zweifel sind die künstlerischen Installationen das Highlight des Events. In den Anfangsjahren war die Holzfigur ”The Man” und dessen Verbrennen die einzige Attraktion, aber ziemlich schnell tauchten auch andere Kunstwerke in der Wüste rund um den Mann auf. Mittlerweile bringen Kreative aus aller Welt ihre aufwendigen Werke nach BRC. Ein Teil der ausgestellten Werke wird – wie der Mann und der ihn umgebende Tempel – verbrannt und ist entsprechend konzipiert, aber der Großteil der Stücke wird nach dem Event wieder abgebaut und findet danach oft einen neuen Ausstellungsort oder geht sogar weltweit auf Tour. Finanziert werden die Kunstwerke durch die Burning Man Stiftung (aus dem Erlös des Eintrittskartenverkaufs), durch die Gemeinschaft selbst, weltweites Crowdfunding, wohlhabende Kunstliebhaber und private Sponsoren.

Die einzelnen Kunstwerke hier zu beschreiben, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen und mir fehlen auch die Worte, diese geballte Ansammlung von unglaublichen Kunstobjekten detailliert zu schildern. Deshalb beschränke ich mich auf gerade mal drei von hunderten Werken, die mich besonders beeindruckt und berührt haben und zu denen ich mich während des Festivals immer wieder hingezogen fühlte.

Der Baum von Tenere

Hierbei handelt es sich um einen lebensgroßen, künstlichen Baum, dessen Stamm von Hand geschnitzt wurde und dessen Krone aus über 25.000 LED-Blättern besteht, die nachts in allen Farben des Regenbogens hell leuchten und interaktiv auf Bewegung und Sound reagieren. Ohne Frage das populärste Werk in diesem Jahr. Tag und Nacht versammeln sich die Burner hier und lassen sich von dem unglaublichen Farbspiel dieses “künstlichen Naturwunders” verzaubern.

Baum von Tenere, Foto: Evan Halleck

Ilumina

Dieses Werk des mexikanischen Künstlers Pablo Gonzales Vargas gleicht einer meterhohen leuchtenden Lotusblume aus Metall. Das Lichtspiel wechselt in Interaktion mit den Menschen, die in den Stühlen am Fuß des Werks Platz nehmen und spiegelt deren Herz- und Atemrhythmus wieder.

Der Flower Tower

Diese Stahlskulptur ragt über 25 Meter in die Höhe und ist von unten bis oben mit Stahlblumen verziert. Dazu schießen alle paar Minuten Flammen explosionsartig aus verschiedenen Teilen dieses spektakulären Kunstwerks. 

Auch die zahllosen umherfahrenden Art-Cars (auch ”Mutant Vehicles“ genannt), die ein fester Bestandteil des Events sind, sind eine Augenweide und zeigen, dass der Fantasie hier keine Grenzen gesetzt sind. Von einer Luxusjacht über ein Piratenschiff, feuerspeiende Drachen, Mad-Max-Race-Cars bis hin zu einem riesigen liegenden Krümelmonster sausen und brausen hier die verrücktesten Fahrzeuge durch die Wüste.

Drogen und psychedelische Kultur

Ohne Zweifel sind Drogen eine treibende Kraft der Burning Man Kultur. Leider muss wegen der bestehenden Gesetze auch hier jeglicher Konsum illegaler Substanzen im Verborgenen geschehen. Wer also denkt, hier wird überall und offen konsumiert, der irrt sich gewaltig, denn BRC ist eben KEINE gesetzlose Zone und in dieser Hinsicht ist auch hier nicht alles möglich. Die Organisation bemüht sich sehr, den Teilnehmern diese Realität klar zu machen, denn die Sheriffs von Nevada sind auch vor Ort und bauen in BRC sogar ein Gefängnis aus Frachtcontainern auf. Wir selber haben zwar keine Begegnung der unangenehmen Art, sind uns aber auch bewusst, dass neben den gut erkennbaren Sheriffs in ihren Pick-Up-Trucks (die teilweise auch mit Hunden unterwegs sind) auch clevere Undercover-Cops als Raver getarnt Jagd auf unvorsichtige und allzu vertrauensvolle Konsumenten machen. 

Obwohl Cannabis – wie mittlerweile in vielen US-Bundesstaaten – auch in Nevada seit dem 1. Juli für den Freizeitkonsum legal ist, wurde selbst vom öffentlichen Kiffen abgeraten, weil man nach geltenden Bundesgesetzen immer noch Ärger mit den Gesetzeshütern bekommen kann. Deshalb sollte man nur im Schutz der eigenen vier (Zelt-)Wände bzw. des Wohnmobils etwas rauchen. Gleichzeitig drehen sich zahlreiche Themen-Camps um das Thema Drogen und bieten informative Workshops und Vorträge zu verschiedenen Substanzen an, ohne dabei (z.B. durch offenen Konsum) das Gesetz zu brechen.

”Schamanismus, Psychedelika & Neurowissenschaften”, ”Durch schwierige psychedelische Erfahrungen lernen”, ”Start Ups, Ayahuasca & Innovation”, ”Die Joint Studie” und ”Die Nahrungspyramide für Stoner” sind nur einige der vielen Vorträge, durch deren Besuch man sich in Sachen Drogen und Kultur in der Wüste weiterbilden kann.

Und wer dann doch zu viel des Guten genommen hat, dem kann von den geschulten Helfern des Zendo-Projekts geholfen werden. Dieses Camp besteht aus einem großen runden Zelt, welches gemütlich mit Matratzen, Decken und Kissen ausgestattet ist und in dem leise, meditative Musik und weiches Licht für eine beruhigende Atmosphäre sorgen. Die freundlichen “Reisebegleiter” (allesamt ausgebildete Psychologen mit großer psychedelischer Erfahrung) tun ihr Bestes, den Reisenden in Not durch die Tiefen ihrer eigenen Psyche zu helfen. Hier wird man mit Fruchtsäften und Tee versorgt, kann sich aussprechen, entspannen und ausruhen.

Noch ein paar Worte zum Thema Cannabis in BRC: Weil Cannabis inzwischen auch in Nevada legal erhältlich ist, ist Gras, Hasch und Hasch-Öl (BHO) in diesem Jahr weit verbreitet. Wegen ihrer Diskretion beim Konsum haben sich viele Burner vor allem mit Edibles (Nahrungsmitteln mit teilweise sehr hohen THC-Werten) in einer der zahllosen Dispensaries auf der Anreise eingedeckt. Dabei unterschätzen viele die Potenz der Brownies, Muffins, Bonbons, Gummibärchen mit psychoaktivem Inhalt und setzen sich dadurch selber Schachmatt. Einer unserer Camp-Kollegen konnte am Montag, nachdem er einen halben Brownie zum Frühstück gegessen hatte, sein Zelt nicht mehr allein verlassen. Hohe THC- und Temperaturwerte von über 40 Grad hatten ihn völlig außer Gefecht gesetzt.

Deshalb sollte man sich auch mit Alkohol zurückhalten, auch wenn viele Camps ihren Besuchern offene Bars bieten. Hier gilt “Weniger ist mehr”, denn ein Mordskater in der Wüste ist eine furchtbare Erfahrung, auf die man getrost verzichten kann.

Der Tempel

Nachdem die ersten drei Tage und Nächte zu einem frenetischen und chaotischen Ganzen verschmolzen sind – während der wir nur minimal geschlafen, in der Abwesenheit jeglichen Zeitgefühls und nach dem Muskelkater in den Beinen zu urteilen, hunderte von Kilometern auf unseren Fahrrädern kreuz und quer über die Playa und in Black Rock City zurückgelegt haben – gelang es uns zum Sonnenaufgang am Donnerstag endlich den Tempel zu besuchen.

Der Tempel ist eine Oase der Stille und Kontemplation, in all dem Jubel und Trubel der sonst überall herrscht. Wie auch “the Man” ändert sich das Design des Tempels jedes Jahr und in diesem Jahr ähnelt das Holzgebäude einer asiatischen Pagode. Hier kommt man hin, um um die Menschen zu trauern, die man verloren hat, opfert symbolisch sein eigenes Ich, um nach dem Event als eine neue, bessere Version seiner Selbst aufzuerstehen oder sucht einfach nur nach etwas Ruhe und Stille in all dem Chaos. Man hört Leute weinen und schluchzen. Es wird gebetet und leise gesungen. Tausende Fotos von verstorbenen Menschen, Inschriften, Briefe und Gegenstände der Erinnerung, die Angehörige und Freunde in den letzten Tagen hier hinterlassen haben, vermitteln einen bleibenden Eindruck bei den Besuchern des Tempels. Trotz der Vielzahl von Menschen – die sich Tag und Nacht in und um die imposante Holzstruktur des Tempels versammelt haben – ist es sehr still hier. Es ist unmöglich, sich der ehrfurchtsvollen Stimmung, die hier herrscht, zu entziehen. Der Besuch des Tempels berührt mich sehr. Am Sonntag – dem letzten Tag des Events – wird auch der Tempel in Flammen aufgehen.

Erst brennt der Mann…

Schon am Freitag merkt man, wie sich die Atmosphäre in BRC verändert. Ich habe das Gefühl, dass nochmal 10.000 Leute mehr nur für das Wochenende in die Wüste gekommen sind, um sich in den nächsten Tagen und Nächten so richtig die Kante zu geben und all die schrägen Vögel, kostümierten Freaks und Hippies zu bestaunen. Und natürlich, um “den Mann” brennen zu sehen. Dieser Einfluss stellt einen krassen Gegensatz zu den letzten Tagen mit ihrem intensiven und dabei trotzdem chilligen Vibe dar. Man sieht mehr und größere Gruppen, von vor allem männlichen Betrunkenen, die durch ihr Verhalten unangenehm auffallen und die 10 Prinzipien – so weit sie überhaupt davon gehört haben – mit den Füßen treten. Deshalb meiden wir ab Freitag die größeren Bühnen und Soundsystems, die jetzt eher an den Ballermann als an Woodstock erinnern und erkunden andere Teile der Playa und der Wüstenstadt. Glücklicherweise ist hier alles auf einer so großen Fläche verteilt, dass man dem besoffenen Mob leicht entkommen kann. 

Meine “radikale Offenheit”, findet hier dann doch ihre Grenzen.

Am Samstagabend um 20 Uhr ist der große Moment gekommen. Gefühlte 3/4 der Bevölkerung von BRC hat sich in einem weiten Kreis um ”The Man“ versammelt. Auch die Art-Cars und mobilen Soundsystems finden Parkplätze und bringen die wartende Menge mit allen möglichen basslastigen Musikgenres – aus denen sich ein ganz neuer Mix ergibt – zum Tanzen. Als der Mann seine artikulierten Arme in die Höhe bewegt, fängt die Menge an zu jubeln und schreien und treibt die Stimmung auf einen neuen Höhepunkt. Eine Welle aus purer Ekstase und Lebensfreude durchfluten und überwältigen einen förmlich. Wohin man sieht, sieht man strahlende Gesichter und Menschen, die sich umarmen. So schön, so gut und friedlich können wir tatsächlich sein. Unglaublich…

Eine Prozession von Fackelträgern, Feuerderwischen und Jongleuren setzt sich von der Stadtmitte unter den lauten Jubelschreien der Bewohner von BRC in Bewegung und setzt den Mann schließlich in Brand. Das Feuer breitet sich rasend schnell aus, denn die gesamte Konstruktion ist von professionellen Pyrotechnikern des Fire Arts Safety Teams (FAST) mit hochentflammbaren Treibstoffen, Tausenden von Feuerwerkskörpern und Dynamit präpariert worden. Buntes Feuerwerk schießt kreuz und quer in den Nachthimmel, Flammen umhüllen den Holzmann und die Menge tobt. Dann gibt es eine Explosion und wir werden von einer Hitzewelle getroffen, während zwei riesige Feuerbälle in den Himmel steigen. Ein atemberaubendes Schauspiel für die Sinne.

Innerhalb von einer Stunde brennt die gesamte Konstruktion zu einem überschaubaren “Lagerfeuer” herunter und die Menge löst sich auf und zieht zu einem der vielen Soundsystems, um das Ende von Burning Man 2017 gebührend zu feiern. Viele verlassen BRC aber auch schon in dieser Nacht, um dem Exodus der kommenden zwei Tage zuvorzukommen.

… und dann der Tempel

Der nächste Morgen erinnert stark an den Tag unserer Ankunft, nur wird jetzt fleißig ab- statt aufgebaut. Viele Leute müssen am Montag wieder in ihr normales Leben und zu ihrem Job zurück und all die Camps, Bühnen und Bars wollen schließlich auch wieder – ganz nach dem 8. Prinzip keine Spuren zu hinterlassen – abgebaut werden. Auch wir packen alle gemeinsam dabei an, unser kleines familiäres Camp abzubauen. In mir kommt Wehmut auf. Auch wenn ich nach einer Woche froh bin, der Hitze und dem Staub den Rücken zu kehren und in die Zivilisation mit warmen Duschen, Waschmaschinen und weichen Betten zurückzukehren, werde ich meine Burner-Familie sehr vermissen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so viele Menschen so oft und so herzlich umarmt zu haben. Burning Man verbindet Menschen wie kaum ein anderes Event. So hart der Aufenthalt in der Wüste (mit den fast täglichen Sandstürmen) auch ist, diese Erfahrung gehört zu den besten, die ich bisher in meinem Leben gemacht habe.

Dann erfahren wir die schreckliche Nachricht: Ein 41jähriger Mann ist beim Verbrennen von “The Man” am Abend zuvor in die Flammen gerannt und hat sich so selbst umgebracht. Zunächst wollen wir es gar nicht wahrhaben. Jedes Jahr versuchen Leute besonders dicht an den Mann heranzukommen, wenn dieser bereits brennt. Bisher ist es dem Team von Feuerwehrleuten, Polizei und Freiwilligen immer gelungen, diese “Feuertänzer” zu stoppen. Doch nicht dieses Mal. Das drückt die Stimmung natürlich um einiges. Schweigend bauen wir unser Camp ab und fragen uns, wie es wohl dazu kommen konnte und sind gleichzeitig froh, dass wir – wie viele andere Burner – nicht Zeugen des Selbstmords werden mussten.

Zum Schluss brennt auch der Tempel, Foto: Evan Halleck

Auf dem Weg zum Tempel fällt auf, wie viele Leute BRC bereits verlassen haben. Mindestens ein Drittel der Teilnehmer ist inzwischen auf dem Rückweg in die Realität außerhalb dieser Oase der unbegrenzten Möglichkeiten.

Schließlich wird auch der Tempel gegen 20 Uhr nach Sonnenuntergang angezündet. Wieder versammeln sich die Bewohner von BRC kreisförmig um den Holzbau. Allerdings findet diesmal alles in ehrfurchtsvoller Stille statt. Die mobilen Soundsystems schalten ihre dröhnenden Anlagen, Laser- und Lichtshows ab und wieder setzt eine Gruppe von Fackelträgern das heilige Gebäude (das wegen des Todesfalls vom Vorabend, von einem weiten Kreis von Polizisten, Freiwilligen und einem Bauzaun abgesichert ist) in Brand. Schweigend betrachtet die Menge, wie meterhohe Flammen und ein nicht enden wollender Funkenregen in den nächtlichen Himmel steigt. Hier und da hört man ein Schluchzen oder leises Weinen. Viele Leute halten sich schützend in den Armen. Sonst ist nur das Knistern der Flammen und das Krachen zusammenbrechender Holzteile zu hören. Nach etwa 30 Minuten fällt der Tempel in sich zusammen. Einige der Anwesenden fangen an, wie Wölfe zu heulen, aber der Ruf der Wildnis wird diesmal vom Großteil der Menge ignoriert. 

Die Verbrennung des Tempels ist ein Augenblick der Kontemplation und des Abschieds. Die Party ist vorbei. Bis zum nächsten Mal, wenn wir uns wieder sehen – hier in Black Rock City, der Stadt in der Wüste für Träumer und Macher und uns gegenseitig mit einer herzlichen Umarmung und einem “Willkommen, zu Hause!” begrüßen.

Foto: Ralf Graebner