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Wir sind die Guten

Die Produktionsbedingungen für das Erscheinen einer THCENE-Ausgabe sind so strukturiert, dass zwischen Abgabe dieses Textes und seiner Veröffentlichung ca. vier Wochen liegen. Vier Wochen, in der sich die Welt ziemlich geändert haben kann. Falls sie überhaupt noch existiert.

Vier Wochen zwischen Abgabe dieses Textes und seiner Veröffentlichung heißt natürlich auch, dass das hier Geschriebene inzwischen komplett ungültig geworden sein könnte. Hätte ich diesen Artikel beispielsweise vor dem 24. Februar abgegeben, hätte ich einen Text formuliert, der von dem großen Bluff handelt, mit dem Putin seine Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen hat, um Druck zu
machen, endlich eine Lösung für den Donbass zu finden. Denn nie im Leben hat Putin ernsthaft vor, in die Ukraine einzumarschieren. Hätte ich damals noch geschrieben. Wie gut, dass ich darauf nicht gewettet habe, denn das wäre bereits zwei Tage später von der Wirklichkeit überholt worden. Und somit nicht mehr gültig gewesen.

Wenn ich also heute (am 4. April 2022) diesen Text fertig schreibe, bitte ich Euch mir nachzusehen, wenn inzwischen schon wieder so viel Zeit vergangen ist, dass damit auch die Wirklichkeit vergangen ist. Ich kann nun mal kein nostradamisch.

Werfen wir nun einen Blick auf die Zeit zwischen dem 24. Februar und heute, so muss man festhalten, dass für Millionen Menschen gerade das größte Problem ist, in der Ukraine geboren worden zu sein. Und diese Menschen, die eben zufällig in der Ukraine das Licht des Lebens erblickt haben, müssen jetzt um ihr Leben fürchten. Und warum? Weil ein Wladimir Putin ausrastet.

John Lennon sagte mal: „Wir werden von Wahnsinnigen regiert“.
Und da frage ich mich: Woher kannte John Lennon eigentlich Wladimir Putin? Einen despotischen Autokraten, der gegen politische, kulturelle und sexuelle Abweichler vorgeht, wie auch gegen die Presse- und Meinungsfreiheit. Politische Satire ist ja immer auch Regierungskritik. Machen wir uns nichts vor, in Russland wäre der Autor dieser Zeilen inzwischen vermutlich verhaftet und ins Gefängnis geworfen worden. So schaut’s aus: Ein Wladimir Putin schafft es, dankbar zu sein, von einem Olaf Scholz regiert zu werden.

Also von einem Bundeskanzler, der an einem Sonntag im deutschen Bundestag sagte, dass er 100 Milliarden in die deutsche Bundeswehr investieren wird – in Euro, nicht Rubel. Und am nächsten Tag öffneten um 9 Uhr die Börsen. Und was meint Ihr? Was ist da innerhalb nur einer Minute mit den Aktienkursen der Rüstungsindustrie-Unternehmen passiert? Wenn Verlierer so aussehen, dann ist der FC Bayern München eine Ansammlung von Trauerklößen.

Aber wir müssen natürlich wieder wehrhaft werden, denn (zur Erinnerung): Die NATO ist in fast allen Bereichen nur fünf mal stärker als Russland. Das ist natürlich viel zu wenig. Außer bei den Atomwaffen, da herrscht Gleichstand. Aber ich habe nichts davon gehört, dass Deutschland diese 100 Milliarden in die Entwicklung einer eigenen Atombombe investieren will. Das hat der Bundeskanzler auch nicht gesagt. Ich habe vorsichtshalber vor- und zurückgespult.

Nein, es geht darum, dass wir Deutschen mit unseren Militärausgaben weltweit nur auf Platz 7 stehen. Von allen Ländern auf der Welt reichen unsere Militärausgaben nur für einen beschämenden 7. Platz. Und der reicht nun mal nicht für die Teilnahme an der Champions League. Dahingehend hat der Bundeskanzler extra noch mal bei Bayern München nachgefragt.

Mit den 100 Milliarden sind wir schlagartig auf Platz 3. Das berechtigt einen für die direkte Qualifikation. Dabei war die Höhe unserer Militärausgaben noch nie das Problem. Das Problem war, wie wir diese Ausgaben verwendet haben. Und wenn wir daran nichts ändern, können wir sogar 150 Milliarden in die Bundeswehr pumpen – und alles, was wir damit erreichen, ist, dass eben noch mehr Gewehre um die Ecke schießen.

Aber für Gedanken an eine bessere Verwendung der Rüstungsausgaben hatten die Abgeordneten im deutschen Bundestag keine Zeit. Geschlossen haben sie sich von ihren Sitzen erhoben und Standing Ovations geklatscht. Das war eine Stimmung! Von der hat mir mein Opa erzählt, dass ihm schon sein Opa davon erzählt hat.
„Keine Waffen in Kriegsgebiete“ – drauf geschissen!
Hätte nur noch gefehlt, dass sie zu singen anfangen:
„Wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wiederhaben.“

Vielleicht ist es deswegen auch ratsam, lieber mal einen Blick in die Vergangenheit zu werfen – vor allem, weil die entsprechende Wirklichkeit ihre Wirkung bereits entfaltet hat, und die Zeit vor Abgabe dieses Textes heute nicht mehr überholt werden kann.
Dachte ich.
Bis mir auffiel, dass es ja mindestens zwei verschiedene Wirklichkeiten gibt – je nachdem, auf welcher Seite des Konflikts man steht bzw. welchen Standpunkt man einnimmt.
Scheidungsanwälte wissen, wovon ich rede.

Es heißt ja immer: „Das erste Opfer eines Krieges ist die Wahrheit.“ Und deswegen ist das Allerwichtigste, das wir uns klar machen müssen, was in einem Krieg immer gilt: Wir sind die Guten.
Die anderen sind die Bösen. Das ist das Erste und das Wichtigste, was man verstehen muss. Deswegen verbreiten die anderen Propaganda und Desinformation, und wir verbreiten nichts als die reine Wahrheit. Das ist ganz wichtig, dass wir das alle kapieren!

Die Anderen verbreiten Propaganda und Desinformation, und wir verbreiten die Wahrheit. Und erst, wenn das jeder von uns verinnerlicht hat, können wir anfangen, mit den Anderen zu verhandeln.

Blöd ist halt nur, dass die Anderen das ganz genauso sehen – nur eben andersrum. Also, dass sie die Guten sind und wir die Bösen. Und dass wir Propaganda machen und sie die Wahrheit verbreiten.

Das ist schon ein Wahnsinn, oder? Wie kann man nur so einem Irrtum aufsitzen? Das ist schon tragisch. Also, dass die Anderen gar nicht sehen, dass sie nur Propaganda wir aber die Wahrheit verbreiten. Das ist wirklich sowas von verblendet – vor allem, weil die uns genau das Gleiche vorwerfen. Also dass wir so verblendet sind, dass wir gar nicht sehen, dass eigentlich wir die Propaganda und sie die Wahrheit verbreiten.

Also wirklich, wie will man sich mit solchen Leuten verständigen, wenn die gar nicht verstehen, dass sie ja nur Propaganda machen während wir die Wahrheit verbreiten.
Wie bringt man denen das bei?
Vor allem, weil die uns ja genau das Gleiche beibringen wollen. Nur andersrum. Also, dass wir Propaganda machen während sie die Wahrheit verbreiten. Also nee, so geht das ja gar nicht. Die überwältigende Mehrheit der Anderen glaubt, dass sie die Guten sind und die Wahrheit verbreiten. Mit denen stimmt doch was nicht. Daran sieht man, wie sehr sie Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden sind. Bei uns hingegen glaubt die überwältigende Mehrheit nicht, dass wir die Guten sind und die Wahrheit verbreiten. Denn bei uns braucht das die überwältigende Mehrheit gar nicht zu glauben. Bei uns weiß sie es! Das ist der entscheidende Unterschied.

Wie können die anderen da nur das Gegenteil behaupten? Also, dass sie genau wissen, dass sie die Wahrheit verbreiten. Und wir das lediglich glauben. Weil wir eben Opfer unserer eigenen Propaganda geworden sind.
Hm, so kommen wir auch nicht weiter.

Nur mal zur Erinnerung: Als wir (die Guten) 1990 gegen den Irak in den Krieg gezogen sind, da machten wir das auch deswegen, weil wir hörten, dass die Iraker Babies aus Brutkästen auf den Boden werfen und sterben lassen. Und das war ja auch die Wahrheit – und keine Propaganda.

Und als wir (die Guten) 1999 gegen Serbien in den Krieg gezogen sind, da machten wir das vor allem deswegen, weil wir hörten, dass die Serben im Stadion von Pristina ein KZ errichtet haben. Und das war ja auch die Wahrheit – und keine Propaganda.

Und als wir (die Guten) 2003 wieder gegen den Irak in den Krieg zogen, da machten wir das nur deswegen, weil wir hörten, dass die Iraker Massenvernichtungswaffen besitzen. Und das war ja auch die Wahrheit – und keine Propaganda.

Also, wie können die Anderen nach all diesen Erfahrungen mit uns nur auf die Idee kommen, dass wir Propaganda machen und nicht die Wahrheit verbreiten? Das will mir einfach nicht in den Schädel.

Ich meine, wenn man sich in einen anderen Standpunkt hineinversetzen will, muss man doch mal aufhören, immer nur auf dem eigenen Standpunkt zu beharren. Aber das verstehen die Anderen irgendwie nicht. Und verlangen genau das von uns. Also, dass wir uns mal in deren Lage hineinversetzen sollen.
Dabei ist das doch lächerlich!
Wo kämen wir denn da hin?

Nun, diese Frage ist recht einfach zu beantworten: In die Empathie.
Die beste Voraussetzung für Diplomatie.
Denn was dabei herauskommt, wenn man Diplomatie ohne Empathie betreibt, das können wir uns gerade in den Nachrichten angucken.
Das nennt sich Idiotie.
Und die gibt’s auf beiden Seiten.
DAS ist die traurige Wahrheit.