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Der Staat als Feind – Eine kleine Geschichte des politischen Anarchismus

Unzufrieden mit Staat und Regierung sind viele. Nur Anarchisten aber trauen sich, daraus auch Konsequenzen zu ziehen. „You do not speak for me“ lautet dabei das Motto der eigenen Autonomie. Anarchismus ist wohl weniger ein konkretes Gesellschaftssystem als vielmehr ein gesellschaftliches Beziehungsmodell.

Das Symbol ist ebenso simpel wie weltbekannt: ein großes A in einem Kreis. Wo es auftaucht, geht es offenbar um Anarchie bzw. Anarchismus. Den letzten großen Popularitäts-Schub erhielt das große A vor mittlerweile mehr als vierzig Jahren durch die Punk-Bewegung. „Anarchy in the U.K.“ hieß der Titel, der den Sex Pistols damals den Durchbruch brachte – eine unsterbliche Hymne jugendlicher Rebellion. Mit Punk haben Anarchie und Anarchismus im ursprünglichen Sinne aber wenig gemeinsam, ebenso wenig wie mit Randale, brennenden Autos, Chaos und Zerstörung – oder womit sie sonst noch fälschlicherweise assoziiert werden.
Dem lateinischen Ursprung des Wortes nach bedeutet Anarchie nichts anderes als Herrschaftslosigkeit und wurde so auch schon im antiken Griechenland verwendet. Erst im 19. Jahrhundert wurde daraus ein politisches Gegenkonzept zum Staat und zur Monarchie. Anarchisten streben ganz grundsätzlich die Aufhebung hierarchischer Strukturen an. Anarchie bedeutet für sie, dass jeder Mensch herrschafts-, zwangs- und gewaltfrei leben kann. Beziehungen zu anderen Menschen beruhen dabei immer auf Freiwilligkeit. Oder um es mit den Worten der legendären Anarchistin Emma Goldman zu sagen: „Anarchie ist die Philosophie einer neuen sozialen Ordnung, basierend auf einer von menschlichen Gesetzen uneingeschränkten Freiheit. Sie beruht auf der Theorie, dass alle Formen von Herrschaft auf Gewalt beruhen und deshalb falsch und schädlich sowie unnötig sind.“

Konsequenter als jede andere politische Idee propagiert der Anarchismus also die individuelle Freiheit als oberstes Prinzip. Nun ist „Freiheit“ ein zwar beliebter, aber auch umstrittener Gummi-Begriff. Wie frei kann ein Mensch im Zusammenleben mit anderen wirklich sein? Darüber gehen auch im Anarchismus die Meinungen auseinander, ebenso die Methoden, wie diese Freiheit zu erlangen ist. Einig ist man sich aber in der Ablehnung des Staates als Herrschaftsinstrument.

Was gibt es nun von anarchistischer Seite ganz allgemein gegen den Staat zu sagen? Zuerst einmal, dass sein Prinzip niemals auf Freiwilligkeit beruht. Fast jeder Mensch wird quasi per Geburt ungefragt zum Staatsbürger ernannt und somit auch dazu verpflichtet, den Staat und seine Institutionen zu finanzieren, oder sie zumindest als Autorität anzuerkennen. Ein Anarchist geht aber davon aus, dass jeder Mensch von Geburt an frei ist und dass diese Freiheit auch von keiner Autorität eingeschränkt werden darf. Eine Staatsbürgerschaft erscheint für ihn als Knebelvertrag, den er nie unterschrieben hat. Frei ist der Mensch innerhalb dieses „Gesellschaftsvertrages“ maximal noch in der Wahl der Vertreter des Staates, die das von ihnen repräsentierte System als solches aber natürlich nie infrage stellen, geschweige denn abschaffen werden. Als Alternative bleibt dem Individuum in letzter Konsequenz nur die Auswanderung in einen anderen Staat, der ihm diese Unfreiheit in etwas abgewandelter Form neu anbietet. Oder eben die Anarchie – und damit ein Leben als Staatsfeind.

Verteidiger des Staates werden nun vielleicht einwenden, dass dieser immerhin wichtige Funktionen zur Regelung und Sicherung unserer Gesellschaft übernimmt, die ein Individuum in der Form allein wohl schlecht leisten könnte. Steuern sind dabei das notwendige Übel, um eine funktionierende Infrastruktur, soziale Leistungen sowie Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Eine durchaus noble Idee, die dennoch nicht auf Freiwilligkeit basiert und die in der Praxis allein schon dadurch pervertiert wird, dass regelmäßig Milliarden an Steuergeldern an den dafür zahlenden Bürgern vorbei in Projekten versenkt werden, die mit oben genannten Funktionen wenig zu tun haben. Das stärkste Argument gegen den Staat wäre aber dessen Gewaltmonopol. Denn der Staatsbürger wird schließlich auch dazu genötigt, einen Polizei- und Militärapparat zu finanzieren, der sich im Zweifelsfall gegen ihn selbst richten kann – zum Beispiel durch die Verhängung von Ausnahmezuständen oder der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten. Einmal demokratisch legitimiert, kann so aus dem fürsorglichen „Vater Staat“ schnell ein totalitärer Machtapparat werden – quasi der Endgegner jedes Anarchisten.

So gesehen werden beispielsweise kiffende Anarchisten dem deutschen Staat in Form seiner derzeitigen Regierungskoalition kaum dankbar sein, dass er demnächst die Cannabis-Legalisierung gesetzlich festschreiben will. Denn ohne staatliche Gesetzgebung gäbe es so etwas wie die Cannabis-Prohibtion erst gar nicht. Der Staat verkauft hier also wieder mal Lösungen für Probleme, die wir ohne ihn gar nicht hätten – bzw. Freiheiten, die uns im anarchistischen Sinne sowieso per Geburtsrecht zustehen.

Wann genau wurde nun aus der Ablehnung des Staates eine eigene politische Bewegung? Die Anfänge des Anarchismus lassen sich fast zeitgleich mit dem Aufkommen der ersten sozialistischen Arbeiterbewegungen Mitte des 19. Jahrhunderts finden. Tatsächlich waren die frühen Anarchisten so etwas wie die ungezogenen Brüder der Marxisten. Der Franzose Pierre-Joseph Proudhon war der erste Intellektuelle seiner Zeit, der sich auch selbst als Anarchist bezeichnete. In seinen „Bekenntnissen eines Revolutionärs“ (1849) erklärte er, dass ein Staat seinen Bürgern grundsätzlich keine Freiheit bieten könne, weil er sich dann selbst abschaffen müsse. Staat und Freiheit waren für ihn zwei Gegensätze, die sich nicht vereinen ließen. Damit geriet er bald in Konflikt mit seinem Zeitgenossen Karl Marx, dessen autoritäres Sozialismus-Modell sich mit seiner „Diktatur des Proletariats“ bekanntermaßen im 20. Jahrhundert (in Teilen der Welt) temporär durchsetzen sollte. Proudhon warnte Marx schon früh davor, dass auch sozialistische oder kommunistische Revolutionäre schnell zu Anführern einer neuen Intoleranz werden können. Die Geschichte des real existierenden Sozialismus im ehemaligen Ostblock (ganz besonders aber die des Stalinismus) beweist, dass er mit dieser Warnung Recht hatte.

Auch die beiden bekanntesten russischen Anarchisten Michail Bakunin und Pjotr Kropotkin standen damals im Konflikt mit den Theorien von Karl Marx. Dabei hatte Bakunin für Marx sogar noch das Manifest der Kommunistischen Partei ins Russische übersetzt. Laut Bakunin war Sozialismus als gesellschaftliche Utopie nur mit größtmöglicher Freiheit und Autonomie (also ohne Staat und autoritäre Institutionen) denkbar: „Es kann nichts Lebendiges und Menschliches außerhalb der Freiheit geben – und ein Sozialismus, der die Menschen aus seiner Mitte verstößt oder der sie nicht als das einzige schöpferische Prinzip und als Grundlage akzeptiert, würde uns ganz direkt zu Sklaverei und Bestialität zurückführen.“

Auch hier muss man unwillkürlich an Stalin denken und Bakunin nachträglich Recht geben. Konsequenterweise trennte sich die anarchistische Bewegung schon im 19. Jahrhundert von der kommunistischen Bewegung und der Sozialdemokratie.

Kaum jemand legte sich um die nächste Jahrhundertwende so furchtlos mit den Autoritäten der Zeit an und war dabei so prägend für die Geschichte des politischen Anarchismus, wie die bereits erwähnte Emma Goldman (1869-1940). In Russland geboren emigrierte Goldman im Alter von 17 Jahren in die USA, wo sie bald zum bekanntesten weiblichen Gesicht des Anarchismus werden sollte. Anders als frühe Anarchisten (wie Pierre-Joseph Proudhon) lehnte sie Gewaltanwendung für die Durchsetzung politischer Ziele nicht komplett ab. Unter dem Einfluss von Schriftstellern wie Johann Most gelangte sie zu der Überzeugung, dass konkrete Aktionen (einschließlich der Anwendung von Gewalt) als „Propaganda der Tat“ für den revolutionären Wandel notwendig sind. Gleichzeitig war sie aber auch eine glühende Pazifistin, radikale Feministin sowie streitbare Verteidigerin der Meinungsfreiheit. Nach mehreren Gefängnisstrafen wurde Emma Goldman 1919 von den amerikanischen Behörden ausgebürgert und in ihre alte Heimat Russland ausgewiesen. Dort zeigte sie sich schwer enttäuscht über die Zustände nach der Oktoberrevolution von 1917. Die Unterdrückung Andersdenkender (inklusive der Anarchisten), politische Repressionen, Umerziehung und Zwangsarbeit passten ganz und gar nicht in Goldmans freiheitliches Weltbild. Frustriert suchte sie sogar die direkte Konfrontation mit Lenin, den sie von seinem „bolschewistischen Irrweg“ abzubringen versuchte – leider ohne Erfolg. Ihre Haltung zur Gewaltanwendung überdachte sie in dieser Zeit: „Es ist eine Sache, Gewalt als Mittel der Verteidigung anzuwenden. Es ist aber eine ganz andere Sache, den Terrorismus zum Prinzip zu erheben“, erklärte Goldman. 1921 verließ sie die Sowjetunion wieder, lebte zunächst in Europa und zuletzt in Kanada.

Waren Anarchisten seit Mitte des 19. Jahrhundert (wenn auch als Minderheit) immer ein Bestandteil der Arbeiterbewegung, so ging ihr Einfluss im frühen 20. Jahrhundert in den meisten Ländern merklich zurück. Mit Ausnahme von Spanien – besser gesagt Katalonien. Dort fand zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges 1936 die wohl erste erfolgreiche anarchistische Revolution der Geschichte statt. Die Katalanen kämpften schon immer um ihre Unabhängigkeit vom kastilischen Teil Spaniens und gegen die politische Fremdbestimmung aus Madrid. Es war vielleicht auch dieser Geist der Unabhängigkeit, gepaart mit einer jahrhundertealten katalanischen Tradition von gegenseitiger Hilfe und Solidarität, der den Anarchismus dort so populär werden ließ. Anders als in anderen Teilen Spaniens, in denen sich viele Proletarier und Landarbeiter nach marxistisch-sozialistischem Vorbild organisierten, orientierte sich die katalanische Arbeiterschaft am kollektivistischen Anarchismus im Sinne Michail Bakunins. Als im Juli 1936 der Militäputsch des späteren spanischen Diktators Franco auch Barcelona unterwerfen sollte, wurden die Soldaten dort mit Gewehren, Handgranaten, Pflastersteinen und Molotowcocktails empfangen. Einen Tag später war der Putsch in Katalonien gescheitert und die faschistischen Putschisten waren in einem regelrechten Blutbad niedergemetzelt worden. Anschließend übernahmen die anarchistische Gewerkschaften CNT (Confederación Nacional del Trabajo) und FAI (Federación Anarquista Ibérica) die Macht, die allein in Barcelona fast eine halbe Million Mitglieder (zusammen) hatten. Die Anarchisten befanden sich damit allerdings in doppelter Opposition: einerseits gegen Francos Militär, andererseits gegen ihre eigene noch herrschende republikanische Zentralregierung.

Nach der Niederschlagung des faschistischen Militärputsches ließen die Anarchisten ihrem Hass auf ihre Gegner zunächst freien Lauf. Die meisten Offiziere der Armee wurden ermordet, auf Unternehmer und Priester wurde Jagd gemacht. Ein anarchistisches Kampfblatt forderte: „Die katholische Kirche muss für immer ausgerottet werden. Ihr gesamtes Eigentum ist zu beschlagnahmen, die religiösen Orden sind aufzulösen. Alle Bischöfe und Kardinäle müssen erschossen werden!“ Mehr als 9.000 Menschen sollen diesem revolutionären Terror im Juli und August 1936 in Katalonien zum Opfer gefallen sein, Zehntausende wurden dabei interniert. In ihrem Kampf gegen die Franco-Faschisten wurden die Anarchisten bald auch von Moskau unterstützt, was gleichzeitig aber auch den Anfang vom Ende der katalanischen Anarchie bedeutete. Schließlich war Stalin nicht an deren sozialrevolutionären Experimenten interessiert. Eine Vertreterin der Gewerkschaft CNT schrieb damals: „Durch die Waffenhilfe der Sowjetunion haben die Kommunisten ungeheuer an Einfluss gewonnen. Wir müssen dauernd befürchten, dass den spanischen Anarchisten ein ähnliches Los bevorsteht wie einst den Anarchisten in Russland.“
Das Ende der anarchistischen Revolution kam im Mai 1937. Die republikanische Führung Spaniens ging mit Waffengewalt gegen die anarchistischen Milizen vor und übernahmen schließlich die Kontrolle.
Erst im Januar 1939, zwei Monate vor ihrem endgültigen Sieg im Bürger- krieg, konnten Francos Putschisten auch in Barcelona einziehen. Der anarchistische Kampf setzte sich daraufhin im Untergrund fort.

Der blutige Verlauf der katalanischen Revolution von 1936 wirft wieder die Frage der Gewaltanwendung auf. Widersprachen die Anarchisten damit nicht ihrem Vordenker Bakunin, der gewaltsame Revolutionen grundsätzlich ablehnte? Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie gewaltfrei sich Anarchismus innerhalb eines gewalttätigen Systems überhaupt durchsetzen lässt. Nicht nur in der Frage der Gewaltanwendung unterscheiden sich bis heute verschiedene anarchistische Bewegungen voneinander. Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob und wie in einer anarchistischen Gemeinschaft Geld eingesetzt werden soll, wie autonom der Mensch als Individuum innerhalb eines Kollektivs sein kann, über die Rolle der Religion, der Ernährung usw. So haben sich unter dem Dach des Anarchismus im Laufe der Zeit allerlei Strömungen herausgebildet: Kollektivistischer und Individualistischer Anarchismus, Anarcho-Kommunismus, Anarcho-Pazifismus, -Feminismus und -Veganismus und schließlich übergreifend der Begriff des „Anarchismus ohne Adjektive“ der bei Bedarf die verschiedenen Strömungen einfach wieder miteinander vereint.

Der linken Anarchismus-Tradition steht außerdem die etwas jüngere Bewegung des Anarcho-Kapitalismus gegenüber. Dessen einflussreichster Vertreter Murray Rothbard (1926-1995) argumentierte (wie schon Pierre-Joseph Proudhon ein Jahrhundert zuvor), dass jeder Mensch von Geburt an frei sei, was für ihn nicht nur Rede- und Vertragsfreiheit einschloss, sondern vor allem auch das Recht auf Privateigentum. Für Anarcho-Kapitalisten (in gemäßigter Form auch als „Libertäre“ bekannt) ist die persönliche Freiheit unmittelbar mit einem freien Markt verbunden. Anders als in der uns bekannten „Sozialen Marktwirtschaft“ sollen in einem wahrhaft freien Markt eben keine Banken und Großunternehmen mit staatlichen Hilfsgeldern gerettet werden, sondern Unternehmen in einen radikal freien Wettbewerb ohne staatliche Kontrollen und Steuern eintreten. Laut Murray Rothbard haben Anarcho-Kapitalismus und Anarchismus außer ihrem Wortstamm nichts miteinander gemein, schließlich verstanden sich Anarchisten traditionell immer als antikapitalistisch. In der Ablehnung des Staates und dem Fokus auf die individuelle Freiheit haben beide Bewegungen aber wohl doch mehr gemeinsam als ihnen lieb ist. Hat Anarchismus im 21. Jahrhundert noch eine Chance? In Barcelona lebt die anarchistische Tradition bis heute (zumindest in einer sehr großen und aktiven Hausbesetzer-Szene) weiter, und die ehemalige anarchistische Gewerkschaft CNT gibt es unter dem Namen CGT (Confederación General del Trabajo) immer noch. Selbstverwaltete Gemeinschaften und autonome Kollektive, die mehr oder weniger jenseits staatlicher Kontrolle existieren, gab und gibt es auch anderswo. Dazu lassen sich sowohl pazifistische religiöse Gemeinschaften wie die Amish Communities in den USA zählen, ebenso Rocker-Clubs oder die gute alte Mafia. Darüberhinaus existierten innerhalb vieler Staaten immer wieder auch autonome Kommunen, wenn auch meist nicht sehr dauerhaft – eine der ältesten und bekanntesten dürfte die „Freistadt Christiania“ in Kopenhagen sein. Wie anarchistisch solche Gemeinschaften sind, hängt letztendlich davon ab, wie frei oder hierarchisch sie organisiert sind. Erich Mühsam schrieb über dieses Selbstverständnis in seinem Aufsatz „Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat“ schon 1933: „Wer die Freiheit der Persönlichkeit zur Forderung aller Menschengemeinschaft erhebt, und wer umgekehrt die Freiheit der Gesellschaft gleichsetzt mit der Freiheit aller in ihr zur Gemeinschaft verbundenen Menschen, der hat das Recht, sich Anarchist zu nennen.“

Wie frei wir in Beziehungen zu anderen Menschen wirklich sein können oder wollen, muss letztlich jeder für sich selbst entscheiden. Das fängt in Zweier-Beziehungen an, geht in der Familie weiter und hört im Verhältnis zu Institutionen und staatlichen Behörden auf. Anarchismus ist in diesem Sinne weniger ein konkretes Gesellschaftssystem als vielmehr ein Beziehungsmodell. Der politische Anarchismus hat heute keine wirklich prominenten Vertreter oder Fürsprecher mehr. Vielleicht sind die aktuellen politischen Krisen um Energieknappheit und Inflation aber auch eine Chance für ein politisches Comeback. Einer der wenigen, die sich in letzter Zeit öffentlich zum Anarchismus bekennen, ist der amerikanische Autor, Podcaster und unerschrockene Twitter-Troll Michael Malice, dessen „Anarchist Handbook“ unter anderem auch als Inspiration für diesen Text diente. Im letzten Kapitel seines Handbuches erklärt Malice, warum er grundsätzlich nicht wählen geht und weshalb das seinen Mitmenschen oft nur schwer vermittelbar ist. Seine Begründung lässt sich in einem knappen Satz zusammenfassen, der gleichzeitig auch als kürzeste Definition von Anarchie gelten kann: „You do not speak for me“. Überzeugte Anhänger der Demokratie mögen das verantwortungslos nennen, gemeint ist damit aber das genaue Gegenteil: Verantwortung für das eigene Leben kann nur der Mensch selbst übernehmen. Dem Staat und seinen Vertretern wird damit jegliche Legitimation abgesprochen.

Von dem Schriftsteller und Kritiker Henry L. Mencken 1880-1956 stammt das Zitat „The average man does not want to be free. He simply wants to be safe“. In der Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit scheinen sich die meisten Menschen immer noch für letztere zu entscheiden, egal wie trügerisch diese Sicherheit auch sein mag. „Vater Staat“ übernimmt dabei auch die Rolle eines vermeintlich schützenden Elternhauses, aus dem die meisten Staatsbürger am liebsten nie ausziehen würden. Dieses Sicherheitsbedürfnis ist wahrscheinlich einer der Gründe, weshalb Anarchie und Anarchismus noch immer einen so schlechten Ruf genießen. Ein anderer ist die Unwissenheit darüber, was Anarchismus abseits aller Klischees tatsächlich bedeutet.

Nicht jeder hat das Zeug zum Anarchisten. Um zu diesem Thema aber zumindest eine eigene, ja autonome Haltung entwickeln zu können, hilft es, sich einmal offen und ohne Scheu mit den Schriften der wahren Anarchisten zu beschäftigen. In diesem Sinne soll hier abschließend noch einmal Emma Goldman zu Wort kommen: „Die Emotionen des unwissenden Menschen werden durch die blutrünstigsten Geschichten über den Anarchismus in Stimmung gehalten. Nichts ist zu abscheulich, um gegen diese Philosophie und ihre Vertreter verwandt zu werden. Deshalb stellt der Anarchismus für den Gedankenlosen das dar, was der sprichwörtliche ’schwarze Mann‘ für das Kind ist: ein finsteres Ungeheuer, das darauf aus ist, alles zu verschlingen. Kurz: Zerstörung und Gewalt … Woher soll der gewöhnliche Mensch wissen, dass das gewalttätigste Element der Gesellschaft die Unwissenheit ist; dass ihre Zerstörungskraft genau das ist, was der Anarchismus bekämpft?“